Donnerstag, 22. Mai 2008

Rensis Likert: Das System überlappender Gruppen

Der Name Rensis Likert ist gewöhnlich nur Studierten bekannt, die sich mit statistischen Erhebungen und Umfragen auseinandersetzen mussten. Beispielsweise nennt sich „Likert-Skala“ ein von Rensis Likert entwickeltes Skalierungsverfahren zur Messung von Einstellungen.
Den Befragten wird eine Reihe von Aussagen (oft auch als "Statements" oder "Items" bezeichnet) vorgelegt, zu denen sie Zustimmung oder Ablehnung äußern können, und zwar in abgestufter Form. Die Befragten sollen also beispielsweise angeben, ob Sie der geäußerten Ansicht "völlig" - "überwiegend" - "teilweise" - "eher nicht" - "gar nicht" zustimmen, oder ob ihrer Meinung nach ein Sachverhalt "ganz und gar" - "weitgehend" - "teilweise" - "eher nicht" - "gar nicht" zutrifft, ob man etwas für mehr oder weniger wichtig hält, usw.
Siehe http://www.wirtschaftslexikon24.net/d/likert-skala/likert-skala.htm
Rensis Likert ist ein Organisationspsychologe und beschäftigte sich unter anderem mit Managementsystemen.
http://en.wikipedia.org/wiki/Rensis_Likert

Das "Linking-Pin" Management - Modell von Rensis Likert

Was hat aber ein Rensis Likert mit der Bewegung intentionaler Gemeinschaften zu tun? Nun, er entwickelte – für das industrielle und wirtschaftliche Management das hierarchiearme und flexible „Linking Pin“ – Modell, auch „System überlappender Gruppen“ genannt.
http://en.wikipedia.org/wiki/Linking_pin_model
Unternehmerinfo.de schreibt dazu:
http://www.unternehmerinfo.de/Lexikon/G/Gruppenkonzept.htm

Führungsmodell, das davon ausgeht, daß Mitarbeiter organisatorisch betrachtet gleichzeitig Teilnehmer zweier sich überlappender Gruppen sein sollen. Abgesehen von den obersten und untersten Hierarchieebenen soll nach Rensis Likert jeder Mitarbeiter gleichzeitig in zwei verschiedenen Gruppen (z. B. Abteilungen) an Entscheidungen beteiligt werden und ist damit in der einen Gruppe teilnehmendes, in der anderen Gruppe führendes oder moderierendes Mitglied. Entscheidungen sollen so weit nach unten verlagert werden, daß diese bezüglich des Sachverstandes der Gruppenmitglieder gerade noch bewältigt werden können. Durch das Netzwerk sich überlappender Gruppen soll die Kommunikation und Integration im Unternehmen verbessert werden.

Wem das zu abstrakt ist, sei es anhang eines Schaubildes kurz erklärt:

Die Kreise stellen Teams dar, die Punkte Menschen. Im Unterschied zu unserem gewohnten Stab-Linien-Kommandosystem, wie wir es aus fast allen unseren Arbeitsplätzen kennen, ist das Team die Grundstruktur dieses Systems. Auch die Führungsebenen bis zur höchsten stellen Teams dar. Gleichzeitig ist es jedoch auch möglich, in mehrere Ebenen gegliederte Führungsebenen zu gestalten. Ich erinnere daran, dass Likert dieses System als Managementsystem für komplexe Industrieorganisationen und Wirtschaftstrust entwickelt hat. Es hat gegenüber der (aus dem Militär abgeleiteten) Stab-Linien-Organisation mit ihren Kommandostrukturen von oben nach unten den Vorteil, dass die Teamarbeit durchgängig die Basis der Organisation ist.
http://de.wikipedia.org/wiki/Stablinienorganisation
Graphische Darstellung einer Stablinienorganisation:
http://de.wikipedia.org/wiki/Bild:Stabliniensystem.jpg
Entsprechend schreibt unternehmerinfo.de warnend dazu:
Gruppenarbeit muss jedoch nicht immer motivierend auf Mitarbeiter wirken (Gruppenfertigung). Gruppenentscheidungen benötigen i.d.R. viel Zeit und der Erfolg einer Maßnahme hängt entscheidend vom Klima in der Gruppe (Kohäsion) sowie dem Willen ab, gemeinsam die Entscheidungen zu realisieren. Praktische Anwendungen dieses Modells sind selten.
Was mit Sicherheit damit zu tun hat, dass auf Integration und Partizipation ausgerichtete Organisationsmodelle in der spätkapitalistischen Realität wenig Nutzen haben für die herrschende Klasse der Kapitalbesitzer, die auf eine fluktuative und gefügige Arbeiterklasse wert legen.

Zukunftsträchtiges Managementkonzept

Ich behaupte allerdings, daß Rensis Likerts Management weit über die Enge kapitalistischer Wirtschaftsorganisation hinausweist und Grundlage sein kann für Organisationsstrukturen hochkomplexer herrschaftsfreier Systeme.
Spätestens hier muß jeder Anhänger intentionaler Gemeinschaften und auch jeder überzeugte Sozialist (bis hin zu Anarchosyndikalisten) hellhörig werden.

Zunächst möchte ich darauf aufmerksam machen, daß das in seiner ursprünglichen Form vorgestellte System in mehreren Aspekten noch modifiziert werden kann.
Zum einen kann die Zugehörigkeit eines Teammitglieds zu einem ("übergeordneten") Link - Team nicht nur durch Kooptation (Ernennung), sondern auch durch Wahl erfolgen (Wahl der Vorgesetzten durch das Basisteam).

Damit wird das Likertsche System kombinierbar mit den klassischen sozialistischen Vorstellungen mit einer auf gewählten (und jederzeit abwählbaren) Arbeiterräten basierenden Arbeiterdemokratie kombinierbar.

Dann läßt dich auch der gesamte hierarchische Aufbau relativieren und dymnamisieren.

Das oben dargestellte Likertsche System in seiner Urform hat natürlich ein "ganz oben" und ein "ganz unten". Aber streng genommen muss das noch nicht einmal sein.
Meine Erfahrung als Firmengründer von Kooperativen sagt mir, daß es auch in einem kooperativen Betrieb verschiedene Führungsaufgaben gibt:

- wirtschaftliche Führung (Rechnungs- und Buchführung, Controlling)
- fachliche Führung (bezogen auf die angebotenen Produkte bzw. Dienstleistungen)
- menschlich - pschologische Führung (Konfliktbehandlung, Betriebsklima etc.)

Die drei Führungs"sphären" müssen keineswegs eindimensional in einer Hand bzw einer Hierarchielinie liegen.

Daraus ergibt sich ein sehr komplexes, mehrdimensionales System, so wie in diesem Beispiel hier.
http://s2.directupload.net/images/user/080522/7qwyzv2t.jpg

Herrschaft versus Führung

Ich bin gewiß der Ansicht, daß herrschaftsfreie Organisationsstrukturen auch Führung benötigen und unterscheide daher sehr scharf und sehr konsequent zwischen Herrschaft und Führung.

Herrschaft basiert auf Zwang und Ausbeutung, wogegen Führung (oder Leitung) aufgabenorientiert (und qualifikationsorientiert) ist und transparent sowie effizient gestaltet werden sollte.

Diese Unterscheidung erscheint mir sehr wichtig. Während Herrschaft etwas ist, was die Menschheit abschaffen sollte und früher oder später auch wird, wird (fachlich orientierte) Führung als notwendiges Element bleiben, solange es Menschen gibt. Das Likertsche Modell liefert Ansätze, Führung sinnvoll, transparent und auch herrschaftsfrei zu gestalten.
Genau in dieser Hinsicht weist das Likertsche Modell - mit Modifikationen - weit über die kapitalistische Verwertungswirtschaft hinaus.

Das Beispiel des Stammes der Likatier

Ein Beispiel für eine modifizierte Likert – Organisationsstruktur findet sich etwa beim Stamm der Likatier. Um nicht missverstanden zu werden: die Likatier haben ihren Stammesaufbau nicht etwa in Kenntnis und Anwendung des Likertschen Organisationskonzeptes vorgenommen. Ich vermute sogar, dass Rensis Likert und sein Managementkonzept bis in die Kreise der Stammesführung unbekannt sind.
Um so interessanter, dass da sehr wohl Übereinstimmungen zu finden sind. Da ich selbst bis zum heutigen Tage sogenannter „autider“ Lebemensch des Stammes bin und auch bleibe, kann ich auch die Realität der Aufbaubeschreibung des Stammes bestätigen.
Auf der URL
http://www.likatien.de/likatien/stammesaufbau.php/cPath/info_aufbau
sind drei Ebenen (besser vielleicht Sphären) des Stammesaufbaus beschrieben:
- Stammeskreise (Mitgliedschaftsgrade)
- Stammesgruppen („Sozialgruppen“)
- Stammesbereiche (Wirtschaftsorganisationen)



„Stammeskreise“ beschreiben zwiebelschalenförmig „Einlass-Stufen“ von Stammesmitgliedern:

Im Stamm der Likatier existieren verschiedene Stammes-Kreise, die die verschiedenen Grade des Einlassens auf den Stamm symbolisieren und die verschiedenen Arten von Mitgliedschaften darstellen. Entstanden ist dieses Modell durch die Erfahrung, dass die Menschen höchst unterschiedliche Bedürfnisse bezüglich der Frage, wie sehr sie sich auf den Stamm einlassen wollen, haben. Um dieser Vielfalt gerecht zu werden, war es erforderlich, unterschiedliche Arten von Mitgliedschaften zu schaffen, wo jeder die Form von Mitgliedschaft wählen kann, die ihm und seinen Bedürfnissen entspricht.
http://www.likatien.de/likatien/aufbaukreise.php/cPath/info_aufbau_aukr

Diese Einlassstufen reichen von Lamatiden („latent Manifesten“: Ausgetretene, verstorbene) bis hin zu den Existenzialmenschen.

Stammesgruppen bezeichnen sogenannte „Sozialgruppen“ (es gibt deren fünf), die sich mehr nach Temperamenten und Charaktereigenschaften definieren.

Die "Sozialgruppen", die seither in unregelmäßigen Abständen zusammenkommen und sich mit einer Vielfalt von kulturellen und sozialen Themen beschäftigen, übernehmen auch verschiedene Aufgaben im Stamm, wie z.B. die Gästebetreuung, Fahrten zu anderen Gemeinschaften, Ausrichten von Festen etc. Die Zuordnung zu den Gruppen wird nicht bierernst nach den Wesensmerkmalen der Gruppen vorgenommen, und neue Mitgliedschaften richten sich weitgehend nach Sympathie und Belieben des Antragstellers.
http://www.likatien.de/likatien/aufbaugruppen.php/cPath/info_aufbau_augr

Die wirtschaftlichen Organisationen des Stammes werden "Bereiche" genannt:

Die Wirtschaftsstruktur des Stammes der Likatier gliedert sich in sechs wirtschaftliche Bereiche. In diesen jeweiligen Bereichen arbeiten branchenähnliche Betriebe zusammen. Die Betriebe haben ihre jeweiligen Betriebsleiter und darüberhinaus gibt es einen Bereichsleiter, der für den Bereich insgesamt verantwortlich ist.

Klar, daß wirtschaftliche Effizienz auch eine funktionelle Hierarchie erforderlich macht.

Zuzüglich noch zu einer vierten, auf der Webseite des Stammes ungenannte Ebene (die so etwas wie „Gesinnungsgemeinschaften“ erfasst) ergibt sich daraus ein hochkomplexes System überlappender Gruppen, in die ein Stammesmitglied eingebunden sein kann.

Ich selbst war in diesem System Lebemensch, Mitglied der Sozialgruppe Eloeme und dem Bereich Schwanen zugeordnet, wobei ich in jeder Ebene mit anderen Menschen (überlappend) verknüpft war. Insgesamt ist der Stamm der Likatier insofern als ein komplexes System überlappender Gruppen darstellbar und beweist die Anwendbarkeit des Likertschen Managementsystems auch und vor allem für herrschaftsfreie Gemeinschaftsformen.

Nemetien als System überlappender Gruppen

Auch das zukünftige Nemetien wäre mithin als ein hochkomplexes System überlappender Gruppen (und Gemeinschaften und Kooperativen etc.) vorstellbar.

Eine Erfahrung der letzten Jahre ist beispielsweise, dass es nicht sinnvoll ist, Menschen mit sehr unterschiedlichen Intentionen, Wünschen, Vorstellungen und Zielen in einer einzigen Gruppe zusammenzufassen. Unabhängig von der Art der Entscheidungsfindung (demokratisches Mehrheitssystem, Konsens, Vetoprinzip, Autokratie, Oligarchie) tendiert eine hochgradig heterogene Gruppenbildung zum Zerfall, zur Spaltung oder zur Verödung. Ein System überlappender Gruppen dagegen erlaubt die Gruppierung von Menschen entlang ihrer Ziele, Interessen etc. und bietet doch die Möglichkeit vielfältiger Zusammenarbeit und Kooperation.

Die Oneida Community: Komplexe Ehe

(Aus der Geschichte der Intentionalen Gemeinschaften)
Die 1848 von dem christlichen utopischen Sozialisten John Noyes gegründete Oneida-Gemeinschaft im US-Bundesstaat New York pflegte eine Form der Gruppenehe, die man „komplexe Ehe" nannte und in der theoretisch jede Frau mit jedem Mann verheiratet war. Die Gemeinschaft praktizierte auch eine Form „wissenschaftlicher Fortpflanzung", bei der die zukünftigen Eltern nach Gesichtspunkten der körperlichen und geistigen Gesundheit von der Gemeinschaft festgelegt wurden, was natürlich letztlich auf Eugenik hinausläuft.
Trotz dieses durchaus anrüchigen Umstandes zählt die Oneida Community zu den interessantesten Vorläufern der heutigen intentionalen Gemeinschaften.

Oneida ist eigentlich der Name einer nordamerikanischen indianischen Nation (im Sinne von: Zusammenschluß mehrerer matriarchaler Stämme), siehe http://www.oneida-nation.net/ oder http://www.oneidanation.org/.
Das ist aber ein anderes Thema.


Oneida ist aber eben auch der Name dieser 1848 gegründeten historischen Gemeinschaftssiedlung von sogenannten “Bibel-Kommunisten”, Möglicherweise ließen sie sich bei ihrer Namensgebung von den matriarchalen Oneida – Indianern sich inspirieren.
Der sogenannte „Bibel – Kommunismus“ war, daran soll ausdrücklich erinnert werden, im 19. Jahrhundert eine außerordentlich rege und kreative Strömung in den USA.
Immerhin hatte die Oneida Community 32 Jahre lang, von 1848 bis 1881 Bestand und war damit eine der stabilsten Gemeinschaftsgründungen in den USA.
Das Schlüsselwort ihrer perfektionistischen Weltanschauung hieß: „Verbesserung“.

Im Jahr 1848 hatten Noyes und seine Anhänger eine herrschaftliche Villa in Oneida Creek im Staat New York bezogen, um dort einen urchristlichen Kommunismus zu verwirklichen. Sie bildeten eine Wohngemeinschaft, in welcher allen alles gemeinsam war – auch die Frauen.
Jede erwachsene Frau war mit jedem erwachsenen Man der Wohngemeinschaft verheiratet.
Noyes nannte dies „complex marriage", also komplexe Ehe.
Ein anderer damals ungewöhnlicher Aspekt des in Oneida Creek praktizierten Kommunismus war, dass auch die Männer Hausarbeit machten, was dazu führte, dass die Männer Waschmaschinen und Geschirrspülmaschinen erfanden und zusammenbastelten, während die Frauen auch im Beruf ihren Mann standen. Zu erwähnen ist auch, dass die Oneida Community sehr großen Wert auf Bildung und Erziehung für alle ihre Mitglieder legte.

Religiös waren sie sogenannte Perfektionisten, eine christliche Richtung.
Diese glaubten, dass die Wiederkunft Jesu, von den Christen am Tag des jüngsten Gerichtes erwartet, schon längst stattgefunden habe: nämlich im ersten Jahrhundert n. Chr.
Damit – so ihre Schlussfolgerung - war das Reich Gottes schon lange Wirklichkeit geworden. Sie unterschieden sich demnach von „gnostischen“ evangelisch-christlichen Vorstellungen, wonach die Welt vom Bösen regiert werde und das Reich Gottes ( = Kommunismus) erst in ferner Zukunft nach dem Jüngsten Gericht einkehren werde.
Sie konnten das durchaus auch mit der Bibel begründen.Im 1. Korintherbrief, Abschnitt 15, Vers 51 schrieb Paulus: „Wir werden nicht alle sterben, aber wir werden alle wiederauferstehen“.

Da ist der Schluß zwingend dass das Jüngste Gericht schon im Ersten Jahrhundert nach Christus stattgefunden hat, bevor alle Zeitgenossen des Paulus gestorben waren.

Die Oneida Community hatte indessen damit die notwendige Einstellung, um sich über Tabus (wie z.B. der Kleinfamilie) hinwegzusetzen und ihre eugnischen Vorstellungen umzusetzen. Noyes nannte diese Züchtung von Menschen „stirpiculture“ (Kultivierung des Nachwuchses).

Noyes nannte die traditionelle Ehe eine „selbstsüchtige Institution, in welcher die Männer ihre Eigentumsrechte über die Frauen ausübten“ und pries die Tugenden der „freien Liebe“ – was Noyes in starke Nähe zu den Auffassungen eines Charles Fourier brachte (es ist mir unbekannt, ob die beiden Männer voneinander wussten).
Zwei Regeln gab es aber in der Oneida Community:
1. Zwei Partner durften nur miteinander ins Bett gehen, wenn jeder damit einverstanden war und dies auch gegenüber einem dritten bekundet hatte.
2. zwei Partner konnten nicht ausschließlich nur mit ihrem bevorzugten Partner ins Bett gehen.

Die zweite Regel stellt allerdings strenggenommen einen Verstoß gegen die Freiwilligkeit dar, wenn auch die Oneida Community nie so weit ging, ihren Mitgliedern die Geschlechtspartner vorzuschreiben, wie es bei der AAO im 20. Jahrhundert der Fall war.

Die Idee der „stirpicultur“ bestand nun darin, dass man Kinder mit besseren Erbanlagen erzeugte, indem man die gesündesten und intelligentesten Männer und Frauen miteinander verband. Nur bestimmte Mitglieder der Gemeinschaft erhielten das Recht, Eltern zu werden. Diese wurden durch ein Komitee ausgewählt. Um zu verhindern, dass die jungen Mädchen nicht unkontrolliert Sex mit dem Erstbesten hatten, der ihnen gerade gefiel, sondern mit denjenigen ins Bett gingen, die ihnen zugedacht waren, erfand man die Praxis der „aufsteigenden Partnerschaft“. Sogenannte „Zentralmitglieder“ wachten über die Jungfrauen und sorgten dafür, dass sie vom „richtigen“ Partner schwanger wurden. Deshalb war es wohl wichtig, selbst Zentralmitglied zu sein oder ein gutes Verhältnis zu den Zentralmitgliedern zu haben. Bis es soweit war, dass die zur Fortpflanzung bestimmten Partner zur Zeugung schritten, wurden die jungen Frauen mit älteren Partnern und junge Männer mit älteren Frauen vereint.

Um unerwünschte Schwangerschaften zu vermeiden und um den nicht zur Fortpflanzung berechtigten Partnern auch Gelegenheit zum Sex zu geben, praktizierte man „männliche Selbstbeherrschung“, die darin bestand, dass man durch Carrezza-Praktikenoder durch Coitus interruptus oder durch Petting vermied, dass die Frauen schwanger wurden. In der Praxis war das wohl so, daß das Paar sich in weihevoller Stimmung zunächst mit einem ausgedehnten Vorspiel beschäftigte, der Mann dann behutsam in die Frau eindrang, dort etwa eine Stunde lang ziemlich regungslos verharrte - während sich das Paar den angenehmen Empfindungen hingab - und sich dann wieder behutsam zurückzog ohne zum Orgasmus gekommen zu sein.
Einige amerikanische Anhänger des tantrischen Buddhismus vermuten, dass die Oneida-Liebespaare eine Art Sexual-Meditation durchgeführt hätten, wie sie auch im Tantrismus oder im Taoismus praktiziert werden.

Die Verhütungspraktiken als Geburtenkontrolle scheinen recht erfolgreich gewesen zu sein. Innerhalb von 20 Jahren gabe es in der Gemeinschaft, die etwa 250 Menschen umfasste, nur ca. 40 Geburten.

Ein Problem der „complex marriage“ war, dass die Partner nicht nur gegenüber einer Person, sondern gegenüber allen Mitgliedern die Pflicht hatten, sexuell verfügbar zu sein. Zwar legte Noyes großen Wert darauf, dass ein Geschlechtsverkehr nur stattfand, wenn beide Partner dies wünschten. In der Praxis sahen sich die Mitglieder der Kommune, vor allem wohl die attraktiveren Mitglieder der Community, vor allem wohl die Frauen, einem starken Druck ausgesetzt, ihren sämtlichen Ehemännern zur Verfügung zu stehen. Das könnte schon mal die Freude am Sex verderben, möchte ich mutmaßen.

Obwohl man sich vorstellen kann, dass es in der Community eine Menge Konflikte gab, erwies sie sich als außergewöhnlich stabil. Es existierten sicher die ganz alltäglichen Probleme wie Eifersucht und Liebe zu einem bestimmten Partner, der mit allen anderen geteilt werden sollte. Da gab es bestimmt auch Opposition gegen den Führer der Kommune, die dieser immer wieder durch Einfühlungsvermögung und Überzeugungsarbeit, oft wohl auch durch Berufung auf die heiligen Texte überwinden musste.
Außerdem war die Community von Seiten der Außenwelt allerlei Druck und Problemen ausgesetzt, - wen wunderts? - durch Politiker, die sich zu Tugendwächtern aufspielten und einen fanatischen verleumderischen Kreuzzug gegen die Community starteten.
Daß dieses Sozialexperiment inmitten einer feindlichen Umwelt so lange existieren konnte, war zum einen den Führungsqualitäten von Noyes zuzuschreiben, aber auch der freundlichen und kultivierten Art, mit der die Perfektionisten ihren Nachbarn begegneten, die oft von ihnen sehr angetan waren.
Ein dritter Faktor war sicher auch, dass die Kommune großen wirtschaftlichen Erfolg hatte und zu Wohlstand kam.

So hatte die Oneida Community 32 Jahre lang, von 1848 bis 1881 Bestand, und zwar wesentlich länger als andere Gründungen dieser Art (Shaker, Nauvoo, Harmony, New Harmony) aus der an Gemeinschaftsexperimenten ausgesprochen reichen amerikanischen Früh-Geschichte.
Am Ende (1881)wurde sie in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, die Konserven, Tierfallen, Tafelbesteck u. a. produzierte – alles mit der gleichen Perfektion, mit der man auch Menschen gezüchtet und das Liebesleben geregelt hatte.
Wie kam es zu dem Ende?
Die Ursache der Auflösung der Oneida Community ist meines Erachtens auch darin zu suchen, dass sie sich zentral um einen einzigen charismatischen Führer drehte, dessen Sinnesänderung aufgrund einer persönlichen Diskreditierung der auf ihn fixierten Gemeinschaft den Todesstoß versetzte.

Laut dem englischen wikipedia:
http://en.wikipedia.org/wiki/John_Humphrey_Noyes
Im Juni 1879 alarmierte einer von Noyes treuesten Gefolgsleuten ihn, dass er wegen Kindesmißbrauch (Unzucht mit Minderjährigen? Englisch im Original: statutory rape) eingesperrt werden sollte. Er floh mitten in der Nacht nach Ontario in Kanada, wo die Community eine Fabrik besaß. Im August diesen Jahres schrieb er ein Statement zurück zur Community, dass es Zeit wäre, die Praxis der komplexen Ehe zu beenden und in einer „mehr traditionellen Weise“ zu leben. So wurde die Community formal aufgelöst und in eine Aktiengesellschaft umgewandelt (1.Januar 1881). Diese Aktiengesellschaft war als Erzeugerin von qualitativ hochwertigem rostfreiem Besteck außerordentlich erfolgreich und ging erst 2006 vollständig in rein private Hände über.
http://en.wikipedia.org/wiki/Oneida_Limited

Noyes kehrte niemals in die USA zurück, sondern blieb in Kanada. Es werden noch merkwürdige Geschichten über ihn erzählt, er behielt bis zu seinem Tod 1886 noch großen Einfluß auf seine Anhänger. Aber mit der komplexen Ehe war plötzlich Schluß.
Wesentlich mehr war aus den mir zur Verfügung stehenden Quellen leider nicht zu erfahren.

Gewiß widerspricht Noyes Experiment in manchen Punkten (vor allem dem der Eugenik) dem Prinzip der Freiwilligkeit, was für sich schon eine Instabilität der Kommune bedingt, doch erklärt dies nicht den plötzlichen Kurswechsel Noyes am Ende seines Lebens.
Wer die Geschichte der amerikanischen Gemeinschaftsgründungen kennt und auch weiß, dass die puritanische Kultur der USA als Überbau eines entfesselten Kapitalismus Gemeinschaftsexperimente nicht gern sah, sondern entweder zu vernichten oder anzupassen versuchte (ich erinnere an die Lynchjustiz gegen den Gründer der Mormonenkirche Joseph Smith jr.), der kann die Geschichte der Oneida – Community nicht einfach als „gescheitertes kommunistisches Experiment“ abtun.
Das „Experiment“ scheiterte demnach letztlich am Einknicken seines offensichtlich erpressbaren charismatischen Führers.
Möglicherweise handelte es sich um einen ähnlichen Fall wie der des ebenso charismatischen Otto Mühl, dessen AAO – Kommune zu Fall kam, weil der Gründer sich in ein frühreifes 13jähriges Mädchen seiner Gemeinschaft verliebte, mit ihr auch Sex hatte und dadurch mit dem Gesetz in Konflikt kam.
http://de.wikipedia.org/wiki/Aktionsanalytische_Organisation

(Die AAO ist ein eigenes Thema).

Es darf also die Frage aufgeworfen werden, ob die Geschichte der Kommune unter anderen Bedingungen nicht hätte auch anders verlaufen können.

Die Oneida Community bleibt für uns eine Quelle der Inspiration, vor allem auch ihre Fehler können sehr lehrreich sein.

Ehre dem Andenken der Oneida - Kommunarden.

Einige Links dazu:

http://en.wikipedia.org/wiki/Oneida_Society
http://en.wikipedia.org/wiki/John_Humphrey_Noyes
http://www.koinae.de/noyes.htm
http://www.nemetien.org/nhoi/oneida.html
http://www.oneidacommunity.org/
http://digitalcommons.unl.edu/etas/5/
http://www.crookedlakereview.com/books/saints_sinners/martin11.html

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