Über einige Bedingungen zur Herausbildung eines Stammes - Vorbedingungen zur Gemeinschaftsbildung
Vorbemerkung des Admin
Dieser Text wurde vermutlich 2005 oder 2006 von -raven- für das "Ganzheitliche Lebensnetzwerk" geschrieben und von Chris dort veröffentlicht. Wegen der thematischen Verwandtschaft zum Artikel "Au ja, wir gründen eine Gemeinschaft" soll er heute noch einmal veröffentlicht werden.
Die Quelle des Textes ist hier:
http://karlsruhe.ganzheitliches-lebensnetzwerk.de/index.php?site=artikel_direct&themeid=3&artid=5
Vorwort des Autors
Mit diesem Aufsatz möchte ich einige Bedingungen für die Herausbildung einer Großgemeinschaft, auch Stamm genannt, auflisten und erörtern. Dieses Unterfangen hat seinen Grund: seit vielen Jahren schon erlebe ich, daß viele Menschen das bisherige Lebens-, Kultur- und Gesellschaftskonzept an seinen Grenzen sehen und sich nach einem anderen Leben in Gemeinschaft sehnen.
Die Gründe dafür sind vielfältig: Alltag im Spätkapitalismus ist anstrengend geworden. Am meisten leiden die Alleinerziehenden, auf denen das ganze Gewicht von Kindererziehung und wirtschaftlicher Erwerbstätigkeit parallel lastet. Hinzu kommt die unsichere ökonomische Situation, der massive Arbeitsplatzabbau der letzten Jahre, die fortschreitende Vereinsamung und Versingelung der Gesellschaft bei gleichzeitiger Überschwemmung der Menschen mit sinnleerem Konsumgut. Das braucht wohl nicht weiter ausgeführt zu werden.
Gemeinschaftsbildung in Hemmung
Interessant ist die Frage, warum es unter diesen Bedingungen der Agonie spätkapitalistischen Gesellschaft nicht in massiverer Form zum Aufbau und zur Entwicklung von gemeinschaftsorientierten Alternativen kommt. Dabei mangelt es nicht an Versuchen, jedoch scheitern die meisten Ansätze in dieser Richtung regelmäßig. Es ist allerdings nicht sinnvoll, dem resignativ gegenüberzustehen. Der Aufbau einer neuen Gesellschaft jenseits des real existierenden Kapitalismus setzt natürlich zum einen voraus, daß klar ist, worin die entscheidenden Merkmale einer lebenswerten Zukunftsgesellschaft überhaupt bestehen sollen. Dies in mehreren Grundzügen zu skizzieren ist unter anderem ja auch die Aufgabe der Sieben Nemetischen Leitideen. Obwohl diese Sieben Nemetischen Leitideen bei allen Menschen, die sich mit ihnen beschäftigen, lebhafte Zustimmung finden, haben sie dennoch keine allgemeine Bewegung hin zum Aufbau einer auf diesen Prinzipien beruhenden Modellkultur geführt. Liegt dies an daran, daß diese Leitideen unzureichend wären? Zweifellos muß das richtig ein. Eine Idee, deren Zeit gekommen ist, wird bekanntermaßen unaufhaltsam sein. Ist die Zeit für die Nemetische Vision noch nicht gekommen? An Mängeln in der Vision des Anzustrebenden kann es nicht liegen, denn es ist nicht sinnvoll, das zu voreilig bis ins Detail auszuführen – schließlich ist die Vision Nemetien explizit ein Rahmen, der vielen individuellen Einzelvisionen von einzelnen Menschen Raum und Entwicklungsmöglichkeit geben soll, da wäre es nicht sinnvoll, zu viel festzuschreiben.
Warum scheitern Gemeinschaftsansätze so oft?
Probleme bestehen eher auf dem Weg zum Ziel. Wie ist es möglich, kleine Ansätze einer Zukunftsgesellschaft zu schaffen in Form von funktionierenden menschlichen Gemeinschaften? Oder anders gefragt: was verhindert das Entstehen solcher kleinen Ansätze oder bringt sie früh zum Scheitern. Vor einigen Jahren noch war ich geneigt, vor allem den ökonomischen Faktor für den wichtigsten und entscheidensten zu halten. Ein Gemeinschaftsansatz, der nicht eigene ökonomische Grundlagen hat, muß notwendigerweise zum Scheitern verurteilt sein. Das halte ich auch heute noch nicht für falsch. Die Beispiele des Stammes der Likatier oder der Kommune Niederkaufungen zeigen bestens, daß stammeseigene (oder gemeinschaftseigene) Betriebe eine ganz wichtige Grundlage sind für Stabilität und Entwicklung einer Gemeinschaft. Doch unterdessen bin ich – durch eigene Erfahrung – darauf gestoßen, daß Techniken und Methoden der Kommunikation, oder genauer gesagt Verfahren des Umgangs im täglichen Miteinander, mindestens ein genau so entscheidender Faktor ist. Vor einigen Jahren machte ich die Entdeckung der Existenz nötigungsorientierter Kommunikation. Einfach ausgedrückt handelt es sich um die Beobachtung, daß es Menschen gibt, die ihre Kommunikation darauf ausrichten, in anderen Menschen gezielt schlechte Gefühle auszulösen, um diese zu irgendeine Handlung oder gar Selbstveränderung zu zwingen, also zu nötigen.
Nötigungsorientierte Kommunikation
Dieses Theorem der nötigungsorientierten Kommunikation kann durch einige Beispiele erläutert werden: wenn etwa Beziehungspartner sich gegenseitig durch gezielt ausgelöstes „schlechtes Gewissen“ zu etwas zu zwingen versuchen; wenn durch Drohungen eigene Interessen durchgesetzt werden; etc. Zuerst beobachtete ich diese Erscheinung an bestimmten Menschen und hielt es für eine individuelle Erscheinung, den spezifischen Charaktermerkmalen der jeweiligen Person entsprechend. Doch ein erweiterter Blick offenbart sehr schnell, daß die meisten Menschen sich mehr oder weniger oft dieser Methode bedienen. Ja selbst kleine Kinder kann man schon dabei beobachten, wie sie durch gezielt ausgelöste schlechte Gefühle etwa in den Eltern ihre eigenen (augenblicklichen) Interessen durchsetzen (durch Schreien, Quengeln, Im-Supermarkt-auf-den-Boden-Werfen etc.) In der Tat, ich wurde auch gefragt: „was ist an nötigungsorientierter Kommunikation denn so schlimm, es macht doch jeder...“ Letztlich stimmt es natürlich. Jeder Mensch steht vom Beginn seines Lebens an vor der Frage: „Wie bringe ich andere Menschen dazu, das zu tun, was ich will, daß sie es tun?“ Eine sehr naheliegende Methode und zunächst sogar eine erfolgversprechende ist nötigungsorientierte Kommunikation. Ich „nerve“ den anderen so lange, bis ein gewisser Leidensdruck erreicht ist und er das tut, was ich möchte, daß er es tut. Eltern, deren Kinder gelernt haben, durch die Methoden von Quengelei und Nörgeln ihre Erzeuger und Erzieher zurechtzudressieren, können ein Lied davon singen. Wo ist dann das Problem? Das Problem fängt da an, wo nötigungsorientierte Kommunikation zum Kommunikations – Standard wird. Nach außen hin sichtbar ist dann lediglich, daß solche Bezugsfelder zerfallen. Ist auch klar: eine von nötigungsorientierter Kommunikation beherrschte Szenerie wird von den meisten geistig gesunden Menschen als unerträglich empfunden. Kein Wunder auch, wer liebt schon eine Umgebung, die hauptsächlich schlechte Gefühle in einem hervorruft?
Alternativen zum Gewohnten
Wo aber ist die Alternative zur nötigungsorientierten Kommunikation? Als ich mir diese Frage stellte, konnte ich sie mir zunächst nur negativ beantworten: die Alternative zur nötigungsorientierten Kommunikation besteht demnach in nötigungsfreier Kommunikation. Ein Marshall Rosenberg hat etwa aufgrund ähnlicher Erkenntnisse sein Kommunikationskonzept und –modell von der „gewaltfreien Kommunikation“ entwickelt. Näher besehen aber zeigt sich, daß die Alternative zur nötigungsorientierten Kommunikation nicht einfach in der Abwesenheit von Nötigung bestehen kann. Das allein genügt nämlich nicht. Es müssen einige wichtige kommunikative Elemente hinzukommen. Da ist zum einen etwas, was man Empathie nennen könnte. Es handelt sich um die Fähigkeit, sich in andere Menschen „einfühlen“ zu können. Nur scheinbar ist dies eine Eigenschaft, die nur wenigen Menschen zu eigen ist. Auch und gerade im Gemeinschaftsumfeld zeigt sich, daß es immer wieder Menschen gibt, die sich gar keine Gedanken darüber machen, daß es auch andere Menschen geben könnte, die schlichtweg Anliegen und Ziele haben. Gemeinschaft wird von diesen betrachtet als eine Art kostenloser Selbstbedienungsladen, in dem man seine eigenen Interessen einfordert und gegen alle Widerstände vor allem „konkurrierende Interessen“ durchsetzt. Oft wird auch das – im Gemeinschaftsumfeld oft angestrebte – Konsensprinzip als Mittel zur Machtdurchsetzung mißbraucht, indem es zum Vetoprinzip degeneriert, welches streng genommen das Gegenteil von Konsens (im Sinne von Übereinstimmung) bedeutet. Menschen, die sich ansonsten gern als machtlos erleben, erfahren ein scheinbares Gefühl von Macht durch die Möglichkeit, „nein“ zu sagen und die Interessen und Ziele anderer zu verhindern.
Empathie
Empathie dagegen ist etwas anderes, es meint einfach die Fähigkeit, wahrzunehmen, daß andere Menschen auch Anliegen und Interessen haben, und daß ein gedeihliches Zusammenleben als Gemeinschaft nur möglich ist, wenn alle Beteiligten die Möglichkeit haben, ihre Anliegen und Ziele zu verwirklichen. Scheinbar ist das ein ganz einfacher Zusammenhang. Und doch habe ich selbst bei kleinsten Gemeinschaftsansätzen immer wieder erlebt, wie gerade auf diesem Gebiet eine allgemeine Blindheit vorherrscht. Es herrscht gewöhnlich Ellbogendenken und Egoismus vor, gewöhnlich gut getarnt durch zur Schau getragene „Friedfertigkeit“. Gewiß werden heutzutage Interessengegensätze nicht mehr mit Keule, Schwert, Pistole oder den Fäusten ausgetragen. Das mag man für einen Fortschritt halten, gewiß. Ein wirklich evolutionärer Sprung in eine gemeinschaftsorientierte Zukunft würde allerdings darin bestehen, daß das gemeinsame Bemühen der Gemeinschaft darin besteht, die Interessen und Anliegen aller Beteiligten zur Geltung kommen zu lassen und sie miteinander zu verknüpfen zu etwas, was man einen gemeinsamen Zielkomplex nennen könnte. Erst damit beginnt Gemeinschaft wirklich. Vorher existiert nur die Illusion von Gemeinschaft. Das ist keineswegs nur ein Theorem, sondern profunde praktische Erfahrung. Wo das individuelle Durch-Setzen eigener Anliegen gegen die Anliegen der anderen der wesentliche Inhalt der Kommunikation innerhalb der Gemeinschaft wird, da ist der eigentliche Gemeinschaftsprozeß schon gescheitert und übrig bleiben Zweckgemeinschaften, deren Mitglieder sich eifrig voneinander abgrenzen, ja sogar abgrenzen müssen. Das nenne ich das „Iterierte Maschendrahtzaundilemma“. Wer sich in Informatik nicht so auskennt, dem sei erläutert, daß „iteriert“ ständige Wiederholung bedeutet (z.B. bei Programmierschleifen).
Das „iterierte Maschendrahtzaundilemma“
Viele kennen den Raab – Song vom „Maschendrahtzaun“, der zum Hintergrund einen skurrilen Prozeß einer Eigenheimbesitzerin gegen ihren Nachbarn zum Gegenstand hatte. Dieser Gerichtsfall, der nicht nur Justiz, sondern auch eine hämische Regenbogenpresse beschäftigte, hatte das Anliegen der Klägerin zum Inhalt, daß ein vom Nachbarn am Grenzzaun angepflanzter Knallerbsenstrauch ihren geschätzten Maschendrahtzaun zum Rosten bringen würde. Dieser durchaus sehr aussagekräftige und symbolhafte Prozeß wirft die Frage auf, warum Millionen von Menschen sich hinter Maschendrahtzäunen gegenüber ihren Nachbarn mit ihrem Vorgärtchen verschanzen, statt nicht gemeinsam das zur Verfügung stehende Land zum gemeinsamen Nutzen aller zu gestalten. Die Antwort heißt „iteriertes Maschendrahtzaundilemma“. Wo nämlich im wesentlichen die Haltung vorherrscht, eigene Interessen gegen „konkurrierende“ Interessen durchzusetzen, da entsteht sehr schnell Übergriffigkeit. Die Übergriffigkeit besteht schlicht im Ignorieren der Interessen und Anliegen anderer. Wo Übergriffigkeit besteht, da hilft letztlich nur die Abgrenzung: am besten einen klaren Maschendrahtzaun gegenüber dem Territorium der anderen, um von deren Übergriffigkeiten verschont zu bleiben. Ich erwähne nur am Rande, daß das Verständnis dessen, was Übergriffigkeit ist, bei den Menschen sehr weit auseinanderklafft. Wer kennt nicht das Sprichwort: „Es kann keiner in Frieden leben, wenn es dem mißgünstigen Nachbarn nicht gefällt“. Gewiß mögen das Mechanismen sein, wie sie in der Welt kleinbürgerlicher Spießer vorherrschen. Doch Gemeinschaftsbildung setzt voraus, daß diese Mechanismen eben nicht mehr prägend sind, sondern stattdessen ein gegenseitiges Berücksichtigen und wechselseitige Einbindung der Interessen der anderen. Dafür wurde aber in dieser Kultur niemand erzogen. Selbst bei sogenannten „heilen Familien“ herrscht hinter der schönen Fassade nötigungsorientierte Kommunikation vor, deren Leidtragenden meistens – wenn sie denn vorhanden sind – die Kinder und Jugendlichen sind. Ich habe mich in meiner eigenen Erfahrung schon mehrere Male in Wohngemeinschaften in diesem „iterierten Maschendrahtzaundilemma“ wiedergefunden, und glaube auch längst nicht mehr an Zufälle. Es ist wohl ein Fakt, daß kooperative und integrative Methoden der Kommunikation eine unabdingbare Voraussetzung für das Entstehen von Großgemeinschaften ist.
Transparenz, Authentizität und kooperative Haltung
Das betrifft keinesfalls nur das Thema der „Transparenz“, wie viele Gemeinschaftsbewegte – etwa aus dem ZEGG – Umfeld - meinen. Nach deren Auffassung entsteht Vertrauen in einer Gemeinschaft, wenn Transparenz und Authentizität besteht. Dazu soll u.a. eine Kommunikationsform namens „Forum“ verhelfen. Ich lehne diese Auffassung, daß Authentizität und Transparenz wichtige Elemente von Vertrauensbildung in einer Gemeinschaft sind, nicht ab. Aber es reicht bei weitem nicht aus. Wer wie ich erlebt hat, wie „Foren“ nach der Art des ZEGG von Personen als eine Art Tribunal mißbraucht wurden, Forumsauftritte vor allem den Zweck hatten, einen nötigenden Druck auf gewisse Personen auszuüben, der weiß, daß bloße Authentizität und Transparenz völlig unzureichend sind, wenn dahinter der unbedingte Wille einzelner Personen steht, anderen ihren Willen aufzuzwingen und eigene Interessen gegen andere durchzusetzen. Die Haltung macht also die Musik, und nicht die Form. Erst unter der Bedingung, daß ich mir des grundsätzlichen Wohlwollens und Kooperationsbereitschaft der anderen sicher sein kann, erst unter dieser Bedingung macht Transparenz und Authentizität überhaupt Sinn. Ansonsten herrschen nämlich letztlich die Gesetze des Kampfes, und Kampf ist immer dann, wenn es gilt ein Interesse gegen das andere durchzusetzen, wo es also um eine Gewinner – Verlierer – Situation geht. Wenn ich in einer Kampfsituation mich befinde, dann sind Transparenz und Authentizität unter Umständen sogar schädlich, denn ich bringe mich durch das Preisgeben meiner Absichten und eventuellen emotionalen Ausbrüchen gewöhnlich in Nachteil. Wann herrscht Kampf? Mancher mag entsetzt sein, wenn er in diesen Zeilen das Wort „Kampf“ liest. Will man nicht gerade in gemeinschaftsbewegten Kreisen „gewaltlos“ oder gar „gewaltfrei“ sein? Nun, ebenso wie die schlimmsten Verbrechen der Geschichte stets im Namen des Guten vollbracht wurden, so tarnt sich Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit am besten durch vorgeschobene Friedfertigkeit. Wer hat das nicht schon erlebt? In der chinesischen Strategielehre gibt es für diese „Kriegslist“ sogar einen Namen: „Hinter einem Lächeln ein Messer verbergen“. Kampf herrscht grundsätzlich dort, wo konkurrierend Interessen gegen andere Interessen durchgesetzt werden sollen, wo also eine Gewinner – Verlierer – Situation beabsichtigt ist. Gewiß gibt es sehr differenzierte Eskalationsebenen, in den seltensten Fällen gehen Kontrahenten mit Fäusten aufeinander los. Eine sehr subtile Form, seine Interessen gegen alle anderen durchzusetzen, ist ja gerade die nötigungsorientierte Kommunikation, wo durch Vorwurf, „schlechtes Gewissen“, Schaffung vollendeter Tatsachen etc. eine günstige Situation für den zur Durchsetzung seiner Interessen Entschlossenen geschaffen werden soll. Gemeinschaft beginnt aber erst dort, wo allgemein, und von allen Beteiligten, eine Gewinner – Gewinner – Situation herbeigeführt werden soll. Interessanterweise sind die wenigsten Gemeinschaftsbewegten sich über diesen Zusammenhang im Klaren. Als ausschlaggebend für Gemeinschaftsbildung werden stattdessen reinste Sekundärtugenden verstanden: Transparenz, Authentizität, momentane Sympathie (am wenigsten verläßlich!), gemeinsame Aktivitäten, ausgeklügelte Dienstpläne etwa für Küchen- und Putzdienste etc.
Wann herrscht kein Kampf?
Dabei ist doch klar, daß ein Mensch nur dann dem Gemeinschaftsleben vor dem individuellen Singleleben oder der Kleinfamilienexistenz den Vorzug gibt, wenn er sich sicher sein kann, daß er in diesem Rahmen auch seine rein persönlichen Anliegen, Ziele und Interessen verwirklichen kann. Wenn Gemeinschaftsleben nur im Zurückstecken gegenüber den Interessen der raumgreifenden Rücksichtslosen besteht, dann verliert Gemeinschaft auch ihren Sinn. Ein gewisser Gradmesser für eine diesbezügliche Reife eines Gemeinschaftsansatzes ist nicht zuletzt auch das Umgehen mit Kindern und Jugendlichen. Ich konnte immer wieder beobachten, daß auch überzeugte Gemeinschaftsbewegte gerade Jugendliche als eine Art minderwertige Menschen (ich will jetzt nicht das verruchte Wort „Untermenschen“ verwenden) betrachten, deren (natürlich durchweg „unvernünftige“) Interessen überhaupt nicht zählen, sondern die gewissermaßen zurechtgehobelt werden müssen. Natürlich möchte ich hier nicht propagieren, daß Jugendliche etwa ein gleiches Stimmrecht wie Erwachsene haben sollten, wenn es etwa um Entscheidungen großer finanzieller Tragweite handelt. Es geht auch nicht um formales Stimmrecht. Es geht darum, ob Jugendlichen überhaupt das Recht auf eigene Anliegen, Interessen und Bedürfnisse zugesprochen wird, wo sie als menschliche Wesen ernstgenommen werden. So etwas habe ich bisher ausschließlich beim Stamm der Likatier erlebt.
Win-Win-Dynamik
Wie ist es denn möglich, in einem Gemeinschaftsansatz so eine Win-Win-Dynamik zu erzeugen, diesen fortlaufenden Prozeß der Integration, von dem ich in der letzten Ausgabe der Nemetischen Heimatzeitung gesprochen habe? Nun, das Grundproblem ist natürlich, daß man bei den meisten Menschen eine solche bewußte Haltung nicht voraussetzen kann. Die Prägung durch die herkömmliche Kultur ist ja eine andere: „Halte deine Schäfchen im Trockenen!“, „Schau in erster Linie auf dein eigenes Interesse!“, etc. Gemeinschaftsleben ist stets auch ein gemeinsames Wachstum, gleichwohl gibt es genug Menschen, die für sich selbst keine Notwendigkeit des Wachstums sehen (sollen die anderen doch „wachsen“, wenn sie wollen). So scheitern natürlich Gemeinschaftsansätze, die aus einem zusammengewürfelten Personenkreis bestehen, deren Bindeglied allenfalls eine momentane Sympathie und eine gewisse Entschlossenheit zu einem Experiment ist, solche Ansätze scheitern regelmäßig. Gerade kleine Ansätze sind oft mit überbordernden Forderungen Einzelner zu Lasten aller anderer vollkommen überfordert, es folgen (iteriertes Maschendrahtzaundilemma) Abgrenzung, Separation und schließlich Trennung. Dabei ist die Lösung nicht so schwer, es erfordert lediglich, daß ALLE Beteiligten gleichermaßen sich auszeichnen – nicht etwa durch ein gemeinsames Interesse, denn das läßt sich nicht voraussetzen, sondern durch den gemeinsamen Willen zum Interessenausgleich, zur Integration, zur Kombinierung aller Einzelinteressen ohne Abstriche zu einem Gesamtinteresse, in dem alle Einzelinteressen vereint sind. Das erfolgt sicherlich nicht durch Fingerschnipp, sondern ist ein permanenter Prozeß, der erst eingeübt werden muß. Wir sind es eben nicht gewohnt, in Gemeinschaften als Identitäten zu denken und zu fühlen. Das müssen wir ändern.
-Raven-
Dieser Text wurde vermutlich 2005 oder 2006 von -raven- für das "Ganzheitliche Lebensnetzwerk" geschrieben und von Chris dort veröffentlicht. Wegen der thematischen Verwandtschaft zum Artikel "Au ja, wir gründen eine Gemeinschaft" soll er heute noch einmal veröffentlicht werden.
Die Quelle des Textes ist hier:
http://karlsruhe.ganzheitliches-lebensnetzwerk.de/index.php?site=artikel_direct&themeid=3&artid=5
Vorwort des Autors
Mit diesem Aufsatz möchte ich einige Bedingungen für die Herausbildung einer Großgemeinschaft, auch Stamm genannt, auflisten und erörtern. Dieses Unterfangen hat seinen Grund: seit vielen Jahren schon erlebe ich, daß viele Menschen das bisherige Lebens-, Kultur- und Gesellschaftskonzept an seinen Grenzen sehen und sich nach einem anderen Leben in Gemeinschaft sehnen.
Die Gründe dafür sind vielfältig: Alltag im Spätkapitalismus ist anstrengend geworden. Am meisten leiden die Alleinerziehenden, auf denen das ganze Gewicht von Kindererziehung und wirtschaftlicher Erwerbstätigkeit parallel lastet. Hinzu kommt die unsichere ökonomische Situation, der massive Arbeitsplatzabbau der letzten Jahre, die fortschreitende Vereinsamung und Versingelung der Gesellschaft bei gleichzeitiger Überschwemmung der Menschen mit sinnleerem Konsumgut. Das braucht wohl nicht weiter ausgeführt zu werden.
Gemeinschaftsbildung in Hemmung
Interessant ist die Frage, warum es unter diesen Bedingungen der Agonie spätkapitalistischen Gesellschaft nicht in massiverer Form zum Aufbau und zur Entwicklung von gemeinschaftsorientierten Alternativen kommt. Dabei mangelt es nicht an Versuchen, jedoch scheitern die meisten Ansätze in dieser Richtung regelmäßig. Es ist allerdings nicht sinnvoll, dem resignativ gegenüberzustehen. Der Aufbau einer neuen Gesellschaft jenseits des real existierenden Kapitalismus setzt natürlich zum einen voraus, daß klar ist, worin die entscheidenden Merkmale einer lebenswerten Zukunftsgesellschaft überhaupt bestehen sollen. Dies in mehreren Grundzügen zu skizzieren ist unter anderem ja auch die Aufgabe der Sieben Nemetischen Leitideen. Obwohl diese Sieben Nemetischen Leitideen bei allen Menschen, die sich mit ihnen beschäftigen, lebhafte Zustimmung finden, haben sie dennoch keine allgemeine Bewegung hin zum Aufbau einer auf diesen Prinzipien beruhenden Modellkultur geführt. Liegt dies an daran, daß diese Leitideen unzureichend wären? Zweifellos muß das richtig ein. Eine Idee, deren Zeit gekommen ist, wird bekanntermaßen unaufhaltsam sein. Ist die Zeit für die Nemetische Vision noch nicht gekommen? An Mängeln in der Vision des Anzustrebenden kann es nicht liegen, denn es ist nicht sinnvoll, das zu voreilig bis ins Detail auszuführen – schließlich ist die Vision Nemetien explizit ein Rahmen, der vielen individuellen Einzelvisionen von einzelnen Menschen Raum und Entwicklungsmöglichkeit geben soll, da wäre es nicht sinnvoll, zu viel festzuschreiben.
Warum scheitern Gemeinschaftsansätze so oft?
Probleme bestehen eher auf dem Weg zum Ziel. Wie ist es möglich, kleine Ansätze einer Zukunftsgesellschaft zu schaffen in Form von funktionierenden menschlichen Gemeinschaften? Oder anders gefragt: was verhindert das Entstehen solcher kleinen Ansätze oder bringt sie früh zum Scheitern. Vor einigen Jahren noch war ich geneigt, vor allem den ökonomischen Faktor für den wichtigsten und entscheidensten zu halten. Ein Gemeinschaftsansatz, der nicht eigene ökonomische Grundlagen hat, muß notwendigerweise zum Scheitern verurteilt sein. Das halte ich auch heute noch nicht für falsch. Die Beispiele des Stammes der Likatier oder der Kommune Niederkaufungen zeigen bestens, daß stammeseigene (oder gemeinschaftseigene) Betriebe eine ganz wichtige Grundlage sind für Stabilität und Entwicklung einer Gemeinschaft. Doch unterdessen bin ich – durch eigene Erfahrung – darauf gestoßen, daß Techniken und Methoden der Kommunikation, oder genauer gesagt Verfahren des Umgangs im täglichen Miteinander, mindestens ein genau so entscheidender Faktor ist. Vor einigen Jahren machte ich die Entdeckung der Existenz nötigungsorientierter Kommunikation. Einfach ausgedrückt handelt es sich um die Beobachtung, daß es Menschen gibt, die ihre Kommunikation darauf ausrichten, in anderen Menschen gezielt schlechte Gefühle auszulösen, um diese zu irgendeine Handlung oder gar Selbstveränderung zu zwingen, also zu nötigen.
Nötigungsorientierte Kommunikation
Dieses Theorem der nötigungsorientierten Kommunikation kann durch einige Beispiele erläutert werden: wenn etwa Beziehungspartner sich gegenseitig durch gezielt ausgelöstes „schlechtes Gewissen“ zu etwas zu zwingen versuchen; wenn durch Drohungen eigene Interessen durchgesetzt werden; etc. Zuerst beobachtete ich diese Erscheinung an bestimmten Menschen und hielt es für eine individuelle Erscheinung, den spezifischen Charaktermerkmalen der jeweiligen Person entsprechend. Doch ein erweiterter Blick offenbart sehr schnell, daß die meisten Menschen sich mehr oder weniger oft dieser Methode bedienen. Ja selbst kleine Kinder kann man schon dabei beobachten, wie sie durch gezielt ausgelöste schlechte Gefühle etwa in den Eltern ihre eigenen (augenblicklichen) Interessen durchsetzen (durch Schreien, Quengeln, Im-Supermarkt-auf-den-Boden-Werfen etc.) In der Tat, ich wurde auch gefragt: „was ist an nötigungsorientierter Kommunikation denn so schlimm, es macht doch jeder...“ Letztlich stimmt es natürlich. Jeder Mensch steht vom Beginn seines Lebens an vor der Frage: „Wie bringe ich andere Menschen dazu, das zu tun, was ich will, daß sie es tun?“ Eine sehr naheliegende Methode und zunächst sogar eine erfolgversprechende ist nötigungsorientierte Kommunikation. Ich „nerve“ den anderen so lange, bis ein gewisser Leidensdruck erreicht ist und er das tut, was ich möchte, daß er es tut. Eltern, deren Kinder gelernt haben, durch die Methoden von Quengelei und Nörgeln ihre Erzeuger und Erzieher zurechtzudressieren, können ein Lied davon singen. Wo ist dann das Problem? Das Problem fängt da an, wo nötigungsorientierte Kommunikation zum Kommunikations – Standard wird. Nach außen hin sichtbar ist dann lediglich, daß solche Bezugsfelder zerfallen. Ist auch klar: eine von nötigungsorientierter Kommunikation beherrschte Szenerie wird von den meisten geistig gesunden Menschen als unerträglich empfunden. Kein Wunder auch, wer liebt schon eine Umgebung, die hauptsächlich schlechte Gefühle in einem hervorruft?
Alternativen zum Gewohnten
Wo aber ist die Alternative zur nötigungsorientierten Kommunikation? Als ich mir diese Frage stellte, konnte ich sie mir zunächst nur negativ beantworten: die Alternative zur nötigungsorientierten Kommunikation besteht demnach in nötigungsfreier Kommunikation. Ein Marshall Rosenberg hat etwa aufgrund ähnlicher Erkenntnisse sein Kommunikationskonzept und –modell von der „gewaltfreien Kommunikation“ entwickelt. Näher besehen aber zeigt sich, daß die Alternative zur nötigungsorientierten Kommunikation nicht einfach in der Abwesenheit von Nötigung bestehen kann. Das allein genügt nämlich nicht. Es müssen einige wichtige kommunikative Elemente hinzukommen. Da ist zum einen etwas, was man Empathie nennen könnte. Es handelt sich um die Fähigkeit, sich in andere Menschen „einfühlen“ zu können. Nur scheinbar ist dies eine Eigenschaft, die nur wenigen Menschen zu eigen ist. Auch und gerade im Gemeinschaftsumfeld zeigt sich, daß es immer wieder Menschen gibt, die sich gar keine Gedanken darüber machen, daß es auch andere Menschen geben könnte, die schlichtweg Anliegen und Ziele haben. Gemeinschaft wird von diesen betrachtet als eine Art kostenloser Selbstbedienungsladen, in dem man seine eigenen Interessen einfordert und gegen alle Widerstände vor allem „konkurrierende Interessen“ durchsetzt. Oft wird auch das – im Gemeinschaftsumfeld oft angestrebte – Konsensprinzip als Mittel zur Machtdurchsetzung mißbraucht, indem es zum Vetoprinzip degeneriert, welches streng genommen das Gegenteil von Konsens (im Sinne von Übereinstimmung) bedeutet. Menschen, die sich ansonsten gern als machtlos erleben, erfahren ein scheinbares Gefühl von Macht durch die Möglichkeit, „nein“ zu sagen und die Interessen und Ziele anderer zu verhindern.
Empathie
Empathie dagegen ist etwas anderes, es meint einfach die Fähigkeit, wahrzunehmen, daß andere Menschen auch Anliegen und Interessen haben, und daß ein gedeihliches Zusammenleben als Gemeinschaft nur möglich ist, wenn alle Beteiligten die Möglichkeit haben, ihre Anliegen und Ziele zu verwirklichen. Scheinbar ist das ein ganz einfacher Zusammenhang. Und doch habe ich selbst bei kleinsten Gemeinschaftsansätzen immer wieder erlebt, wie gerade auf diesem Gebiet eine allgemeine Blindheit vorherrscht. Es herrscht gewöhnlich Ellbogendenken und Egoismus vor, gewöhnlich gut getarnt durch zur Schau getragene „Friedfertigkeit“. Gewiß werden heutzutage Interessengegensätze nicht mehr mit Keule, Schwert, Pistole oder den Fäusten ausgetragen. Das mag man für einen Fortschritt halten, gewiß. Ein wirklich evolutionärer Sprung in eine gemeinschaftsorientierte Zukunft würde allerdings darin bestehen, daß das gemeinsame Bemühen der Gemeinschaft darin besteht, die Interessen und Anliegen aller Beteiligten zur Geltung kommen zu lassen und sie miteinander zu verknüpfen zu etwas, was man einen gemeinsamen Zielkomplex nennen könnte. Erst damit beginnt Gemeinschaft wirklich. Vorher existiert nur die Illusion von Gemeinschaft. Das ist keineswegs nur ein Theorem, sondern profunde praktische Erfahrung. Wo das individuelle Durch-Setzen eigener Anliegen gegen die Anliegen der anderen der wesentliche Inhalt der Kommunikation innerhalb der Gemeinschaft wird, da ist der eigentliche Gemeinschaftsprozeß schon gescheitert und übrig bleiben Zweckgemeinschaften, deren Mitglieder sich eifrig voneinander abgrenzen, ja sogar abgrenzen müssen. Das nenne ich das „Iterierte Maschendrahtzaundilemma“. Wer sich in Informatik nicht so auskennt, dem sei erläutert, daß „iteriert“ ständige Wiederholung bedeutet (z.B. bei Programmierschleifen).
Das „iterierte Maschendrahtzaundilemma“
Viele kennen den Raab – Song vom „Maschendrahtzaun“, der zum Hintergrund einen skurrilen Prozeß einer Eigenheimbesitzerin gegen ihren Nachbarn zum Gegenstand hatte. Dieser Gerichtsfall, der nicht nur Justiz, sondern auch eine hämische Regenbogenpresse beschäftigte, hatte das Anliegen der Klägerin zum Inhalt, daß ein vom Nachbarn am Grenzzaun angepflanzter Knallerbsenstrauch ihren geschätzten Maschendrahtzaun zum Rosten bringen würde. Dieser durchaus sehr aussagekräftige und symbolhafte Prozeß wirft die Frage auf, warum Millionen von Menschen sich hinter Maschendrahtzäunen gegenüber ihren Nachbarn mit ihrem Vorgärtchen verschanzen, statt nicht gemeinsam das zur Verfügung stehende Land zum gemeinsamen Nutzen aller zu gestalten. Die Antwort heißt „iteriertes Maschendrahtzaundilemma“. Wo nämlich im wesentlichen die Haltung vorherrscht, eigene Interessen gegen „konkurrierende“ Interessen durchzusetzen, da entsteht sehr schnell Übergriffigkeit. Die Übergriffigkeit besteht schlicht im Ignorieren der Interessen und Anliegen anderer. Wo Übergriffigkeit besteht, da hilft letztlich nur die Abgrenzung: am besten einen klaren Maschendrahtzaun gegenüber dem Territorium der anderen, um von deren Übergriffigkeiten verschont zu bleiben. Ich erwähne nur am Rande, daß das Verständnis dessen, was Übergriffigkeit ist, bei den Menschen sehr weit auseinanderklafft. Wer kennt nicht das Sprichwort: „Es kann keiner in Frieden leben, wenn es dem mißgünstigen Nachbarn nicht gefällt“. Gewiß mögen das Mechanismen sein, wie sie in der Welt kleinbürgerlicher Spießer vorherrschen. Doch Gemeinschaftsbildung setzt voraus, daß diese Mechanismen eben nicht mehr prägend sind, sondern stattdessen ein gegenseitiges Berücksichtigen und wechselseitige Einbindung der Interessen der anderen. Dafür wurde aber in dieser Kultur niemand erzogen. Selbst bei sogenannten „heilen Familien“ herrscht hinter der schönen Fassade nötigungsorientierte Kommunikation vor, deren Leidtragenden meistens – wenn sie denn vorhanden sind – die Kinder und Jugendlichen sind. Ich habe mich in meiner eigenen Erfahrung schon mehrere Male in Wohngemeinschaften in diesem „iterierten Maschendrahtzaundilemma“ wiedergefunden, und glaube auch längst nicht mehr an Zufälle. Es ist wohl ein Fakt, daß kooperative und integrative Methoden der Kommunikation eine unabdingbare Voraussetzung für das Entstehen von Großgemeinschaften ist.
Transparenz, Authentizität und kooperative Haltung
Das betrifft keinesfalls nur das Thema der „Transparenz“, wie viele Gemeinschaftsbewegte – etwa aus dem ZEGG – Umfeld - meinen. Nach deren Auffassung entsteht Vertrauen in einer Gemeinschaft, wenn Transparenz und Authentizität besteht. Dazu soll u.a. eine Kommunikationsform namens „Forum“ verhelfen. Ich lehne diese Auffassung, daß Authentizität und Transparenz wichtige Elemente von Vertrauensbildung in einer Gemeinschaft sind, nicht ab. Aber es reicht bei weitem nicht aus. Wer wie ich erlebt hat, wie „Foren“ nach der Art des ZEGG von Personen als eine Art Tribunal mißbraucht wurden, Forumsauftritte vor allem den Zweck hatten, einen nötigenden Druck auf gewisse Personen auszuüben, der weiß, daß bloße Authentizität und Transparenz völlig unzureichend sind, wenn dahinter der unbedingte Wille einzelner Personen steht, anderen ihren Willen aufzuzwingen und eigene Interessen gegen andere durchzusetzen. Die Haltung macht also die Musik, und nicht die Form. Erst unter der Bedingung, daß ich mir des grundsätzlichen Wohlwollens und Kooperationsbereitschaft der anderen sicher sein kann, erst unter dieser Bedingung macht Transparenz und Authentizität überhaupt Sinn. Ansonsten herrschen nämlich letztlich die Gesetze des Kampfes, und Kampf ist immer dann, wenn es gilt ein Interesse gegen das andere durchzusetzen, wo es also um eine Gewinner – Verlierer – Situation geht. Wenn ich in einer Kampfsituation mich befinde, dann sind Transparenz und Authentizität unter Umständen sogar schädlich, denn ich bringe mich durch das Preisgeben meiner Absichten und eventuellen emotionalen Ausbrüchen gewöhnlich in Nachteil. Wann herrscht Kampf? Mancher mag entsetzt sein, wenn er in diesen Zeilen das Wort „Kampf“ liest. Will man nicht gerade in gemeinschaftsbewegten Kreisen „gewaltlos“ oder gar „gewaltfrei“ sein? Nun, ebenso wie die schlimmsten Verbrechen der Geschichte stets im Namen des Guten vollbracht wurden, so tarnt sich Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit am besten durch vorgeschobene Friedfertigkeit. Wer hat das nicht schon erlebt? In der chinesischen Strategielehre gibt es für diese „Kriegslist“ sogar einen Namen: „Hinter einem Lächeln ein Messer verbergen“. Kampf herrscht grundsätzlich dort, wo konkurrierend Interessen gegen andere Interessen durchgesetzt werden sollen, wo also eine Gewinner – Verlierer – Situation beabsichtigt ist. Gewiß gibt es sehr differenzierte Eskalationsebenen, in den seltensten Fällen gehen Kontrahenten mit Fäusten aufeinander los. Eine sehr subtile Form, seine Interessen gegen alle anderen durchzusetzen, ist ja gerade die nötigungsorientierte Kommunikation, wo durch Vorwurf, „schlechtes Gewissen“, Schaffung vollendeter Tatsachen etc. eine günstige Situation für den zur Durchsetzung seiner Interessen Entschlossenen geschaffen werden soll. Gemeinschaft beginnt aber erst dort, wo allgemein, und von allen Beteiligten, eine Gewinner – Gewinner – Situation herbeigeführt werden soll. Interessanterweise sind die wenigsten Gemeinschaftsbewegten sich über diesen Zusammenhang im Klaren. Als ausschlaggebend für Gemeinschaftsbildung werden stattdessen reinste Sekundärtugenden verstanden: Transparenz, Authentizität, momentane Sympathie (am wenigsten verläßlich!), gemeinsame Aktivitäten, ausgeklügelte Dienstpläne etwa für Küchen- und Putzdienste etc.
Wann herrscht kein Kampf?
Dabei ist doch klar, daß ein Mensch nur dann dem Gemeinschaftsleben vor dem individuellen Singleleben oder der Kleinfamilienexistenz den Vorzug gibt, wenn er sich sicher sein kann, daß er in diesem Rahmen auch seine rein persönlichen Anliegen, Ziele und Interessen verwirklichen kann. Wenn Gemeinschaftsleben nur im Zurückstecken gegenüber den Interessen der raumgreifenden Rücksichtslosen besteht, dann verliert Gemeinschaft auch ihren Sinn. Ein gewisser Gradmesser für eine diesbezügliche Reife eines Gemeinschaftsansatzes ist nicht zuletzt auch das Umgehen mit Kindern und Jugendlichen. Ich konnte immer wieder beobachten, daß auch überzeugte Gemeinschaftsbewegte gerade Jugendliche als eine Art minderwertige Menschen (ich will jetzt nicht das verruchte Wort „Untermenschen“ verwenden) betrachten, deren (natürlich durchweg „unvernünftige“) Interessen überhaupt nicht zählen, sondern die gewissermaßen zurechtgehobelt werden müssen. Natürlich möchte ich hier nicht propagieren, daß Jugendliche etwa ein gleiches Stimmrecht wie Erwachsene haben sollten, wenn es etwa um Entscheidungen großer finanzieller Tragweite handelt. Es geht auch nicht um formales Stimmrecht. Es geht darum, ob Jugendlichen überhaupt das Recht auf eigene Anliegen, Interessen und Bedürfnisse zugesprochen wird, wo sie als menschliche Wesen ernstgenommen werden. So etwas habe ich bisher ausschließlich beim Stamm der Likatier erlebt.
Win-Win-Dynamik
Wie ist es denn möglich, in einem Gemeinschaftsansatz so eine Win-Win-Dynamik zu erzeugen, diesen fortlaufenden Prozeß der Integration, von dem ich in der letzten Ausgabe der Nemetischen Heimatzeitung gesprochen habe? Nun, das Grundproblem ist natürlich, daß man bei den meisten Menschen eine solche bewußte Haltung nicht voraussetzen kann. Die Prägung durch die herkömmliche Kultur ist ja eine andere: „Halte deine Schäfchen im Trockenen!“, „Schau in erster Linie auf dein eigenes Interesse!“, etc. Gemeinschaftsleben ist stets auch ein gemeinsames Wachstum, gleichwohl gibt es genug Menschen, die für sich selbst keine Notwendigkeit des Wachstums sehen (sollen die anderen doch „wachsen“, wenn sie wollen). So scheitern natürlich Gemeinschaftsansätze, die aus einem zusammengewürfelten Personenkreis bestehen, deren Bindeglied allenfalls eine momentane Sympathie und eine gewisse Entschlossenheit zu einem Experiment ist, solche Ansätze scheitern regelmäßig. Gerade kleine Ansätze sind oft mit überbordernden Forderungen Einzelner zu Lasten aller anderer vollkommen überfordert, es folgen (iteriertes Maschendrahtzaundilemma) Abgrenzung, Separation und schließlich Trennung. Dabei ist die Lösung nicht so schwer, es erfordert lediglich, daß ALLE Beteiligten gleichermaßen sich auszeichnen – nicht etwa durch ein gemeinsames Interesse, denn das läßt sich nicht voraussetzen, sondern durch den gemeinsamen Willen zum Interessenausgleich, zur Integration, zur Kombinierung aller Einzelinteressen ohne Abstriche zu einem Gesamtinteresse, in dem alle Einzelinteressen vereint sind. Das erfolgt sicherlich nicht durch Fingerschnipp, sondern ist ein permanenter Prozeß, der erst eingeübt werden muß. Wir sind es eben nicht gewohnt, in Gemeinschaften als Identitäten zu denken und zu fühlen. Das müssen wir ändern.
-Raven-
nemetico - 23. Jan, 10:05
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Felixx (Gast) - 28. Sep, 10:26
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Ja, du hast recht, das Forum ist auch nur eine Form und ja, es kommt auf die Haltung an. Es gibt aber nichts, was sich nicht aus missbrauchen ließe. Ich habe aber auch ganz andere, als die von dir geschilderten "nötigenden" Foren erlebt. Ich würde so gar so weit zu gehen zu sagen, mehrheitlich waren die Foren ganz anders: Nämlich Verständnis-vermittelnd. Zur Einfühlung einladend. Klärung in Gang setzend. Wenn es nicht so wäre, wäre das Forum auch als Form nicht inzwischen weit über die Grenzen des ZEGG verbreitet worden.
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