Montag, 8. Dezember 2008

Harmony und New Harmony in Indiana (USA)

Mit diesem Artikel soll einem der aufsehenerregensten Gemeinschaftsexperimente des 19. jahrhunderts gedacht werden, nämlich "New Harmony".
Dieter Duhm schreibt irgendwo in seinem Buch "Die heilige Matrix", dass diese Gemeinschaftssiedlung im Dschungel untergegangen wäre.
Nun, New Harmony ist heute eine Kleinstadt in den USA (Bundesstaat Indiana) und keineswegs untergegangen
Sie zählte im Jahr 2000 916 Einwohner, während es 1910 noch 1.229 und 1900 noch 1.341 Personen waren.

Begründet wurde diese Kleinstadt 1817 durch den radikalen pietistischen Laienprediger Johann Georg Rapp.
Dieser war Sohn eines Leinewebers und Weingärtners, von Beruf Leineweber, und trennte sich 1785 in seinem Heimatort Iptingen in Württemberg als separatistischer Gegner der lutherischen Kirche von dieser.

Die radikalen Pietisten waren davon überzeugt, dass wahres Christentum nur außerhalb der verfassten Kirche gelebt werden könne. Deshalb blieben sie den Gottesdiensten und Abendmahlsfeiern fern. Viele verweigerten Taufe und Konfirmation der Kinder und hielten diese von der Schule fern. Außerdem lehnten die radikalen Pietisten die Eidesleistung und den Militärdienst ab.
Auch im 19. Jahrhundert stießen solche Vorstellungen nicht auf das Wohlwollen der Obrigkeiten.

Im Jahr 1803 wanderte Rapp nach Amerika aus und kaufte 1804 für die Gründung seiner ersten Siedlung mit Namen Harmony in Pennsylvania in der Nähe des Ortes Zelienople 1.640 ha Land zum Preis von 10.000 $.

Am 15. Februar 1805 gründete Rapp dort die Gemeinschaft Harmony Society, ließ aber das gesamte Vermögen auf sich und seine Familie eintragen. Beim Eintritt musste jedes neue Mitglied die Grundsatzerklärung Artikel zur Vereinigung von 1805 unterschrieben. Damit erfolgte die Übergabe des gesamten Vermögens und den Verzicht auf Privatbesitz; dafür verpflichtete sich Rapp sich für die Dauer der Mitgliedschaft zur Bereitstellung der lebensnotwendigen Güter. Rapp berief sich dabei auf die Bibelstelle Apostelgeschichte Kapitel 4 Vers 32.
Diese Gemeinschaft war durchaus erfolgreich.

1813 entschloss sich Rapp aus ökonomischen Gründen, die Stadt in Pennsylvania aufzugeben und zu einem Preis von 100.000 $ zu verkaufen.

Im Winter 1813/14 reiste Rapp nach Indiana und kaufte dort bis 1817 an dem Fluss und Schifffahrtsweg Wabash aus dem Staatsbesitz nach und nach rund 12.300 ha sumpfiges Land zum Preis von 61.050 $ auf.

Nur 70 Rappisten (oder Harmonisten) blieben in Pennsylvania; die übrigen 730 zogen von 1814 bis Mai 1815 nach Indiana, um dort ihre zweite Stadt Harmony aufzubauen.

Beide Kolonien wurden von Friedrich Engels in seinem Artikel "Beschreibung der in neuerer Zeit entstandenen und noch bestehenden kommunistischen Ansiedlungen" im Jahr 1845 besprochen.
(vollständiger Text hier)

Die Rappisten waren - kurz gesagt - im wesentlichen religiöse Sektierer. Die Mitglieder der Harmony Society waren (auch als bereits Verheiratete) zu einem gemeinsamen Leben (vita communis) mit sexueller Enthaltsamkeit, Verzicht auf Privatleben und ausschließlich kollektiver Arbeit verpflichtet; freigestellt war allein der Besuch der abendlichen religiösen Zusammenkünfte und der beiden Sonntagsgottesdienste. Die Einhaltung dieser Verpflichtungen überwachte Rapp in unnachgiebiger Weise.
Ökonomisch indessen war die Gemeinschaft ausserordentlich erfolgreich. Das Vermögen der Gemeinschaftskasse stieg bis zum Tod von Rapp im Jahr 1847 nach unterschiedlichen Angaben auf 5 -12 Millionen $.

Die "Harmony Society" löste sich (nach ihrer Gründung 1805) so um 1905 auf - ein Wunder, wenn man die sexualfeindliche Haltung dieser Gemeinschaft bedenkt.

1824 kaufte der Frühsozialist Robert Owen die Stadt Harmony und den 121 km² großen Landbesitz in Indiana zum Preis von $150.000 von Johann Georg Rapp und gab der Stadt den neuen Namen New Harmony, den sie bis heute trägt.

Robert Owen war im Unterschied zu Rapp zwar auch ein engagierter Gemeinschaftsgründer, aber strikt atheistisch in seiner Grundhaltung.

Die neue nicht religiöse Produktionsgenossenschaft in New Harmony mit rund 1000 Einwohnern bestand nur von 1825 bis 1827.

Woran scheiterte sie?

Der individualistische Anarchist Josiah Warren (1798 - 1874), der selbst Mitglied des Experiments unter Owen war, führte das Scheitern darauf zurück, dass den Teilnehmern zuwenig Unabhängigkeit in ihren privaten Entscheidungen gelassen wurde. Deswegen sei es unmöglich gewesen, Konsens in der Frage einer für jeden einzelnen verbindlichen "richtigen" Lebensweise zu erreichen. Das Experiment scheiterte aber auch, weil Mitglieder in die Produktionsgenossenschaft aufgenommen wurden, die dazu nicht geeignet waren, und weil Robert Owen lange Zeit von New Harmony abwesend war und deshalb gerade in der Anfangszeit keinen Einfluss auf die Entwicklung der Produktionsgenossenschaft nehmen konnte.
wikipedia

"Zu wenig Unabhängigkeit bei privaten Entscheidungen" also...
Es ist ein eigentümlicher Zug, der sich durch die Gemeinschaftsprojekte des 19. Jahrhunderts zieht:

- ein übertriebener "Kollektivismus" und die Dominanz von Gruppenzwang erodierte viele frühsozialistische Experimente (z.B. auch bei den ikarischen Kommunisten um Etienne Cabet)

- seltsamerweise hatten aber viel rigidere religiöse Gemeinschaftsprojekte (z.B. die Rappisten) eine längere Lebensdauer. Die Rigidität des religiösen Kultes schuf in diesen Fällen einen stärkeren Zusammenhalt, als der Gruppenzwang Zentrifugalkräfte erzeugte. Auch die sehr experimentelle Oneida-Community ("komplexe Ehe") mit ihrer langen Lebensdauer war im Prinzip eine evangelikale Sekte.

Insofern war auch New Harmony unter Robert Owen nicht von Freiwilligkeit und darauf basierender Verbindlichkeit geprägt, wie es ein Charles Fourier als charakteristisch für eine "harmonische" Gesellschaft erklärt hatte.
Zwischen beiden Personen gab es darüber auch einen handfesten Streit.
Für den hoch engagierten Philantropen Robert Owen war das Scheitern der atheistischen Kooperative nach drei Jahren erst einmal eine Niederlage.

Doch das Ende der Kooperative war nicht das Ende auch der Siedlung.

Robert Owen verließ New Harmony am 1. Juni 1827, achtzehn Monate nach dem enthusiastischen Anfang. Aber auch nach seinem Fortgang zog New Harmony zahlreiche kreative Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Lebensentwürfen an, die dafür sorgten, dass New Harmony als Stadt Bestand hatte und zu einer für die Entwicklung von Indiana bedeutsamen Stadt der Kultur und der Wissenschaften wurde, in der sich als Innovation für Nordamerika die ersten öffentlichen Schulen mit gleichberechtigter Ausbildung für Jungen und Mädchen, die erste öffentliche Berufsschule, das erste Arbeiterinstitut, die erste öffentliche Bibliothek und der erste öffentliche Kindergarten befanden. Der Kindergarten in New Harmony war der Anlass zu dem englischen Lehnwort kindergarten.
Feministinnen in New Harmony setzten das Frauenwahlrecht in New Harmony durch, lange bevor das Frauenwahlrecht in Indiana oder in anderen Bundesstaaten der USA eingeführt wurde.


wikipedia

Trotz des Scheiterns sowohl von Harmony als auch New Harmony sei beiden Pionierprojekten Respekt gezollt.
Johann Georg Rapps Gemeinschaft mag aus heutiger Sicht mit ihrem kollektiven Zölibat fremdartig anmuten, war aber über Jahrzehnte hinweg außergewöhnlich ökonomisch erfolgreich.
Robert Owens Bestrebung, eine Gemeinschaft in New Harmony ohne diese religiösen Hintergründe ins Leben zu rufen, scheiterte zwar nach wenigen Jahren, erregte aber weltweit großes Aufsehen.

Für uns heute gilt es, sowohl die Erfolgsfaktoren als auch die Gründe des Scheiterns in beiden Projekten zu erkennen und daraus Lehren zu ziehen.



Bild: Robert Owens niemals realisierte Vision von New Harmony.

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