Gemeinschaft gründen

Sonntag, 20. Januar 2008

Au ja, wir gründen eine Gemeinschaft!

Die Erfahrung zeigt, dass Sehnsucht nach Gemeinschaft verbreiteter ist als die – individuelle oder kollektive – Fähigkeit, eine Gemeinschaft mit aufzubauen. In 20 Jahren diesbezüglichen Versuchen und immer neuen Anläufen weiß ich, wovon ich rede.
Der rapide Zerfall der Familie in der zeitgenössischen spätkapitalistischen Welt (unter den Bedingungen der „Globalisierung“) produziert immer mehr Single – Existenzen und alleinerziehende Menschen (meistens Frauen), die mit ihrer Existenz oft alles andere als zufrieden sind, unabhängig von dem Maß an vermeintlichem Luxus, mit dem sie sich, oder auch nicht, eindecken können, um den Schrecken der Einsamkeit in der Massengesellschaft zu entgehen.
Von daher ist die diffuse Sehnsucht nach „Gemeinschaft“ naturgemäß sehr groß. Und immer wenn sich eine Gruppe unter der Devise „Gemeinschaftsbildung“ bildet, ist der Zulauf erfahrungsgemäß auch durchaus hoch. Doch bei diesen diffusen Gemeinschaftsbildungen ist die Erfolgsquote leider sehr sehr niedrig. Wenn es schon zu „Gemeinschaftsgründungen“ kommt, dann handelt es sich meistens um sehr kleine Wohn- oder Hausgemeinschaften entweder im Miet- oder im Eigentümerverhältnis, die sich sehr schnell zerstreiten.
Woran liegt das? Ist etwa die Legende wahr, dass „der Mensch“ „zu egoistisch“ sei, um wirklich gemeinschaftsfähig zu sein. Solcherlei wird einem gern eingeredet von den Propagandisten des „Neoliberalismus“, welcher – aus dubiosen „philosophischen“ oder „weltanschaulichen“ Quellen sich speisend, uns einreden möchte, dass die Profitgier einzelner quasi als „unsichtbare Hand“ gewissermaßen magischerweise das „beste“ für alle Menschen herbeiführen würde. Ich will diesen politisch – philosophischen Diskurs an dieser Stelle nicht führen, denn ich bin zutiefst überzeugt davon, dass der Mensch ein Gemeinschafts – Lebewesen ist und andernfalls evolutionär allenfalls dort gelandet wäre, wo sich heute die Kalmare und ihre Varietäten sind. Die Kalmare (Teuthida) stellen mit rund 400 Arten die größte Gruppe innerhalb der Kopffüßer dar, ihre größeren Gattungen und Arten zeichnen sich durchaus durch eine nachweisliche hohe Intelligenz aus. Allerdings entsprechen die Kalmare durchaus den Idealen des Neoliberalismus, sie gesellen sich zueinander nur in Paarungszeiten und fressen sich durchaus mit Eifer auch gegenseitig auf.
Trotzdem bleibt die Frage, warum Gemeinschaftsbildungen unter Menschen so oft scheitern, obwohl die Menschen evolutionär eher Hordenlebewesen sind und nachweislich ohne ihre Fähigkeit zur Kooperation nicht so weit hätten kommen können, wie sie gekommen sind.
Da also biologisch-genetische Faktoren weitgehend ausscheiden, müssen wohl kulturelle Faktoren ausschlaggebend sein.
Natürlich – wir alle sind Kinder des Spätkapitalismus und von dessen kulturellen Traditionen zutiefst geprägt.
Schaut man sich die Geschichte des Scheiterns von kleinen Gemeinschaftsansätzen an, so findet sich rasch, dass „Menschliches – Allzumenschliches“ die häufigsten Gründe für das Scheitern ist. In erster Linie, jeder Wohngemeinschafts – Erfahrene weiß das, sind Konflikte um Sauberkeit und Ordnung, um Bad und Küche, um finanzielle Anteile an diversen Ausgaben, um Art und Weise der Kommunikation miteinander.
Finanziell sind Gemeinschaftsprojekte, selbst sehr großer Art (Dimensionen von einigen hundert) sehr wohl berechenbar und realisierbar, der kommunikative Sprengstoff indessen lässt sich nicht berechnen.
Ein sehr verführerischer Gedanke ist der, eine Gemeinschaft zu begründen mit Menschen, die einem gerade augenblicklich sehr sympathisch sind. Dieser Gedanke ist noch nicht einmal falsch, denn wer wollte schon mit unsympathischen Menschen zusammenleben?
Aber er ist auch nicht wirklich richtig.
Sympathien und damit verbundene Gefühle können sehr konjunkturell sein, wie wir alle wissen. Wer heute noch verehrt und respektiert wird, kann morgen schon gemobbt werden. Häufig findet sich auch das Phänomen der schwarz – rose Matrix. Das funktioniert ungefähr so: wenn meine Kommunikationssituation mit einem bestimmten Menschen gerade gut ist, dann wende ich die rosa Matrix auf ihn an. Alle seine Eigenschaften und sein Verhalten erscheinen in einem rosa Licht. Gibt es allerdings einen Konflikt, der emotionale Verletzungen mit sich bringt, dann wird die rosa Matrix durch eine schwarze ausgetauscht, und der gleiche Mensch erscheint mit allen seinen Eigenschaften in einem dunklen Licht.
Jeder Mensch, der mit einer gewissen kritischen Distanz seine eigenen Gefühle beobachtet, kennt diese Erscheinung.
Sympathien allein ist also kein zuverlässiger Indikator dafür, ob eine Gemeinschaftsgründung erfolgreich ist.
Was aber sind zuverlässige Indikatoren?
Das ist ein sehr sehr großes Thema und unter anderem deswegen, um dieses Thema in all seinen Facetten zu erörtern und anhand von Erfahrungen zu beleuchten, schreibe ich diesen Blog.
Doch einige grundlegende Faktoren meine ich schon einmal kurz und prägnant benennen zu können.
Fragen Sie sich, liebe Leser, doch bitte einfach, was sie von einer Gemeinschaft erwarten, sich wünschen. Gewiß fallen Ihnen solche Worte wie „Vertrauen“, „Geselligkeit“, „förderliches Umfeld“, „gegenseitige Hilfe“ usw. ein, zuzüglich natürlich einige urpersönliche Wünsche, die nur Sie selbst kennen.
Sie haben also Erwartungen an eine Gemeinschaft, die es ihnen lohnend erscheinen lässt, die Idee einer Gemeinschaft überhaupt ins Auge zu fassen. Wenn Sie keine Möglichkeiten sehen, in einer konkreten Gemeinschaft ihre Wünsche und Erwartungen zu verwirklichen, werden Sie kaum so etwas ins Auge fassen.
Ein gewisser Aha – Effekt stellte sich bei mir ein, als ich vor vielen Jahren einmal das Kloster Maria Laach besuchte und von einem der Mönche dargestellt bekam, wie sich das (zölibatäre) Gemeinleben der Klosterbrüder so gestaltete.
Er berichtete mir und anderen, dass die Klostergemeinschaft sich – im Rahmen ihrer Ordensregeln, versteht sich – bemühe, den Neigungen und Leidenschaften von jedem der Brüder gerecht zu werden; meistens übten die Mönche ihre traditionellen Berufe weiter aus (z.B. Winzer) oder gingen ihren geistigen oder materiellen Leidenschaften nach.
„Einer von uns ist sogar Ethnologe“, sagte der Abt. „Der verkümmert uns, wenn er nicht jedes Jahr mindestens eine Weltreise machen kann.“
Auf meine Nachfrage antwortete er, dass die – durchaus kostspielige – Weltreise dem betenden Ethnologen von der Klostergemeinschaft durchaus finanziert würde, wenn sie denn tragbar für die Finanzen des Klosters wäre, denn schließlich hätte die Gemeinschaft auch unzählige Vorteile von ihrem Bruder Ethnologen.
Obwohl ich bei Gemeinschaftsgründungen gewiß nicht an katholische Klöster denke, hat mich diese damalige Aussage sehr beeindruckt.
Sie machte mir klar, dass das Wesen von Gemeinschaft darin besteht, dass alle ihre Mitglieder allen anderen dabei helfen, ihre Wünsche, Vorstellungen und Vorhaben zu unterstützen.
Streng genommen ist Gemeinschaft außerhalb einer solchen Leitidee letztlich auch sinnlos.
Wozu in Gemeinschaft gehen, wenn ich mir sicher bin, dass meine persönlichen Anliegen und Wünsche dort keinen Platz haben?
Von daher ergibt sich ein weiterer wichtiger Erfolgfaktor für eine Gemeinschaft außer der momentanen Sympathie: ist die Konstellation der vorhandenen Mitglieder denn geeignet, einen solchen allseitigen Prozess der gegenseitigen Hilfe zu beginnen, auszulösen?
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Art der Kommunikation.
Ich konnte bei vielen Gemeinschaftsprojekten feststellen, dass ein Phänomen, das ich „nötigungsorientierte Kommunikation“ nenne, oft ausschlaggebend war für den Zerfall des Vorhabens.
Was ist „nötigungsorientierte Kommunikation“?
Allgemein gesprochen ist nötigungsorientierte Kommunikation jeder Kommunikationsakt, der darauf ausgerichtet ist, jemand anders durch gezielt ausgelöste schlechte Gefühle (= Nötigung) zu etwas zu zwingen.
Gewiß ist nötigungsorientierte Kommunikation etwas weit verbreitetes, und gewiß nicht nur im Gemeinschaftsumfeld feststellbar – im Gegenteil.
Beziehungen zwischen Eltern und Kindern basieren immer noch meist auf Nötigung (Schule, Sauberkeit und Ordnung, usw.). Auch die Kommunikation zwischen Beziehungspaaren (ob verheiratet oder nicht) basieren oft auf gegenseitiger Nötigung und Erpressung.
Wirklich freie und freiwillige Beziehungen sind ausgesprochen selten.
Nötigungsorientierte Kommunikation ist eine „kulturelle Tradition“, die wir alle mitbringen, denn auch in unserer spätkapitalistischen Epoche ist die Nötigung immer noch ein zentrales Element im Mikrokosmos der Gesellschaft. Zwar sind körperliche Misshandlungen zugegebenerweise (im Vergleich zu früheren Epochen) eher selten geworden, aber es gibt nach wie vor den Schulzwang, den Arbeitszwang usw.
Kein Mensch ist davon unabhängig. Und geradezu jeder hat gelernt, dass es nicht sinnvoll ist, klein beizugeben, sondern vielmehr gar zu oft notwendig, die eigenen Interessen gegen die der anderen „durchzusetzen“.
In einer Gemeinschaft, die letztlich einen freiwilligen Zusammenschluß darstellt, wirkt ein solches Verhalten dagegen verheerend. Bei jedem freiwilligen Zusammenschluß ist solcherlei festzustellen, sogar bei monogamen Liebespaaren. Wo sich im Laufe der Beziehungsgeschichte der gegenseitige Groll aufgrund von Nötigungen und Verletzungen anhäuft, da bricht irgendwann auch die Beziehung auseinander. Und umgekehrt werden viele Ehebeziehungen nur durch diverse „Sachzwänge“ aufrechterhalten
In einer Gemeinschaft, einer kleinen allzumal, wirken sich diese Gesetzmäßigkeiten noch viel stärker aus. Eine Gemeinschaft, in der nötigungsorientierte Kommunikation vorherrschend ist, sei es in Form von Schuldzuweisungen, Drohungen, unterschwelligen Erpressungen etc, ist notwendigerweise zum Zerfall verurteilt. Und darin ist letztlich die Ursache für den Zerfall vieler, besonders kleiner Gemeinschaftsprojekte zu sehen.
Denn eine stabile Gemeinschaft kann nur die Freiwilligkeit zur Grundlage haben, Gruppenzwang sollte stets eine wohl abgewogene Ausnahme darstellen.
Doch mit diesem Bewusstsein gehen die meisten Enthusiasten, die mit „Au ja, wir gründen eine Gemeinschaft“ beginnen, an das Projekt gar nicht dran.
Ja, was wäre denn die Alternative zur „nötigungsorientierten Kommunikation“?
Wenn ich einen anderen Menschen nicht durch Druck nötigen kann, meinem Willen zu widerfahren, wird mir nichts anderes übrig bleiben als ihn dazu zu bewegen, freiwillig mich in meinen Wünschen und Vorhaben zu unterstützen. Ich muß letztlich an den Wünschen und Vorhaben des ANDEREN anknüpfen und sie mit meinen eigenen verbinden.
Das setzt aber einiges voraus, und ist wesentlich komplizierter als kommunikativ zu nötigen. Ich muß dazu sowohl meine eigenen Wünsche und Vorstellungen kennen, als auch die des anderen, und muß eine Vorstellung davon entwikeln, wie die sich verbinden und verknüpfen ließen. Außerdem muß die Kommunikation mit dem anderen darüber transparent, also durchsichtig, nachvollziehbar und ohne Hinterlist geführt werden.
Diese „kooperative Kommunikation“ wird gleichwohl in unserer Gesellschaft so gut wie nirgendwo gelehrt. Aber sie ist die Kardinaltugend jeder Gemeinschaftsbildung.
Und es gibt noch einen Faktor, den ich erwähnen möchte. Es ist die „Intentionalität“. Sie ergibt sich stringent aus dem bereits gesagten.
Eine Intention ist, allgemein gesprochen, ein Motiv oder Beweggrund des Handelns, und zwar des gemeinsamen Handelns.
Ich habe in den letzten 20 Jahren immer wieder Menschen kennengelernt, die der Auffassung waren, eine gemeinsame Intention sei unnötig zur Gemeinschaftsbildung (Sympathie würde genügen, alles andere würde sich ergeben).
Rein empirisch ist das offensichtlich falsch.
Mir persönlich ist keine einzige größere nicht – intentionale Cohousing - Gemeinschaft bekannt. Der Begriff „intentionale Gemeinschaft“ hat unterdessen auch in die Wissenschaft Eingang gefunden.
Untersuchung zweier intentionaler Gemeinschaften

Offenkundig ist eine solche Intentionalität wichtig, denn sie stellt die geistige Klammer der Gemeinschaft auch in (notwendigen) Konfliktsituationen dar. Eine solche Intention kann verschiedenen Charakter haben: politischen, religiös-spirituellen, philosophischen, kulturellen etc. Auch sind die Intentionen von Gemeinschaften notwendigerweise so verschieden wie die Menschen, aus denen sie sich zusammensetzen. Jede Großgemeinschaft hat auf diese Weise einen höchst „individuell-kollektiven Charakter“, aber ohne eine solche Intention scheint es nicht zu gehen.
Und wenn es lediglich die Intention ist, einen Stamm darzustellen, wie es beim Stamm der Likatier der Fall ist.
http://www.likatien.de/

Liebe Leser, die Kombination von Freiwilligkeit und kooperativer Kommunikation mit kollektiver Intentionalität mag für manche von Ihnen vielleicht wie die Quadratur des Kreises erscheinen. Sie ist es aber nicht, sondern der Schlüssel zu Gemeinschaftsbildung und Gemeinschaftsprozess.
Diese Zusammenhänge sind nach vielen Jahrzehnten vieler gescheiterter und weniger erfolgreicher Gemeinschaftsgründungen durchaus erkannt und bekannt.
Niemand muß mehr „in die Falle laufen“, welche eine voreilige „Gemeinschaftsgründung“ lediglich auf der Grundlage momentaner Sympathie darstellt.

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