Sonntag, 1. Juni 2008

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Vision Ikarien

Über den utopischen Kommunisten Etienne Cabet gab es schon einen Artikel.

In diesem Text soll es speziell um seine Vision "Ikarien" gehen.

Durch einen Artikel in seiner Zeitschrift "de Populaires" fiel Etienne Cabet in Ungnade wegen Majestätsbeleidigung des französischen "Bürgerkönigs" Louis Philippe und wurde vor der Wahl zwischen Gefängnis oder Exil gestellt.

Er entschied sich für fünf Jahre Exil in England. Er sprach kein Englisch und hielt sich viel im Britischen Museum auf.
Während seines Exils verfasste er den utopischen Roman "Voyage en Icarie".
Als Vorlage dazu dienten ihm die Theorien Owens, mit dem er sich auch persönlich traf, Buonarottis "Babeuf und die Verschwörung für die Gleichheit" von 1828, Morus’s "Utopia" u.a.
"Voyage en Icarie" ,geschrieben 1839, erschien 1840.
Das Buch war ein großer Erfolg bei den unzufriedenen Massen in Frankreich. Manche Arbeiter legten sogar zusammen, um sich ein Buch zu kaufen. Es wurde ihr "Evangelium".
1840-48 kamen 5 Auflagen heraus.

Das Buch ist in Romanform geschrieben und erzählt die Reise eines jungen Lords zu einer abgelegenen Insel, deren Bewohner gerade die Revolution zum Kommunismus hinter sich haben.

Der junge Lord kann seine Begeistung für die Segnungen der Demokratie nicht verbergen. Dass ein Adliger dermaßen Partei ergreift, begeisterte offenbar die proletarischen Leser.

Voyage en Icarie beschreibt einen komplett durchorganisiertern Arbeiterstaat auf einer großen Insel, dessen oberstes Prinzip die vollkommene Gleichheit und Gütergemeinschaft war.
Das Volk ist in 1000 Gemeinden aufteilt, die Hauptstadt heißt Ikaria. Die Städte und Gemeinden sind architektonisch alle streng symmetrisch angelegt. Im Zentrum die Hauptstadt Ikaria, die eine Kreisform besitzt

Die Volksvertreter Ikariens werden demokratisch gewählt. Es werden Komitees gebildet, die bis ins Detail zum Wohle aller entscheiden.

Alle Ikarier werden z.B. zentral mit wechselnden Menues bekocht. Sie speisen alle gemeinsam in prachtvoll ausgestatteten Speisesälen. Es gibt ein ikarisches Kochbuch, das die besten und gesündesten Nahrungsmittel aufführt.

Ein Komitee von Experten entscheidet über die Kleidung der Ikarier. Zu jedem Anlass werden Uniformen hergestellt, deren Stoffe elastisch sind, damit sie für verschiedene Größen passen. Die Farbe kann nach Geschmack gewählt werden.

Die Bewohner Ikariens kommen in den Genuß der neusten technischen Errungenschaften. Ikarien kennt bereits eine Art Straßenbahn und Ampelanlagen.

Alle Ressourcen werden nach dem Maßstab "zuerst das Nötige, dann das Nützliche, zuletzt das Angenehme" aus dem Gesellschaftskapital bestritten, von Kleidung über Nahrung bis hin zu den Werkzeugen etc.

Das Einkommen wird progressiv besteuert, das Erbrecht ist abgeschafft, der Staat regelt die Löhne bzw. schafft sie ganz ab. So garantiert die Arbeit keinen höheren Lebensstandard mehr, es entwickelt sich keine Oberschicht und alle werden gleich geachtet. Besondere Leistungen werden allein durch öffentliche Auszeichnungen belobigt. Auch die Aristokraten (!!) sind allen gleichgestellt, zufrieden üben sie handwerkliche Berufe aus.
Ikarien verfügt über staatliche Werkstätten (Manufakturen) und Ackerbaukolonien.
In Ikarien gibt es keinen Bedarf für "ungesunde" Berufe, wie z.B. Wirte und Waffenschmiede.

Der Gründer Ikariens, Ikar, wird an jeder Strassenecke mit Denkmälern, Inschriften und Plakaten verehrt.
(Liest sich aus heutiger Sicht natürlich seltsam, wenn man an die Ikonomanie etwa des Stalinismus denkt).

Eine freiwillige Selbstzensur der Ikarier ersetzt jede Polizei.
Eine Nationalzeitung, die allen zugeschickt wird, veröffentlicht das Geschehen in dem Staat.
Das Erziehungssystem besteht aus einer Grundausbildung und 12 Jahren moralischer Erziehung.
Frauen verlassen mit 17 die Schule, Männer mit 18. Im Alter von 50 Jahren dann, gehen die Frauen in Ruhestand und die Männer mit 65.
Von Kindheit an lernen die Bewohner die Mehrheit zu respektieren und ordnen sich ohne Murren unter.
Künstler und Dichter schaffen ihre Werke nur zum Wohle des Staates (z.B. besingen sie technische Errungenschaften).

In Cabets Utopia sind alle Menschen zufrieden und glücklich, ein Ikarier spricht es aus: "Der Mensch gehorcht gerne einer Ordnung, die er selbst gemacht hat".

Aus heutiger Sicht wirkt Cabets Ikarien streng und reglementiert. Bekanntlich attackierte Charles Fourier Cabets Vorstellungen heftig (und umgekehrt Etienne Cabet den Fourier auch).

Ein Bedürfnis nach Platz für Spontanität der Ikarier gab es in Etienne Cabets Ikarien nicht. Mögliche Konflikte zwischen dem Interesse der Gemeinschaft und der Individuen werden ausgeklammert.

1847 hatte Cabet ca. 400000 Anhänger in Frankreich. Eine ungeheure Zahl für die damalige Zeit.
Sie drängten bald nach einen praktischen Beweis für die Theorie, sie wollten das Experiment.


Das ehrgeizige utopische Experiment in dem amerikanischen Städtchen Nauvoo scheiterte, nicht zuletzt am unduldsamen und herrischen Charakter Cabets selbst.

Doch seine Vision von Ikarien inspirierte die Arbeiterbewegung seiner Zeit gewaltig, und selbst aus der Kritik seiner Utopie gingen wertvolle Impulse aus.

Auch wenn er gelegentlich als der "bürgerlichste" aller Frühsozialisten bezeichnet wird und seine persönlichen Bestrebungen zu Realisierung seiner Utopie scheiterten, auch wenn sein utopischer Entwurf aus heutiger Sicht teilweise eher skurrile Züge trägt, so ist doch sein Lebenswerk, für das er alle seine Kräfte einsetzte, zu würdigen und zu respektieren.

Er ist in jeder Hinsicht einer der Urahnen der Arbeiterbewegung und der Bewegung Intentionaler Gemeinschaften, und selbst in seinem Scheitern und in seinen Irrtümern einer der größten der menschlichen Geschichte.


Ein Auszug aus seinem utopischen Roman:

Arbeiter, auf nach Ikarien!

Denkt über euer Los nach und ihr müßt einsehen, daß euch das Elend packt, wenn ihr den Mutterleib verlassen habt, und daß es sich nicht eher von euch trennt als wenn ihr im Sarge ruht.

Ihr, Proletarier, Söhne der Proletarier, wandelt in schmutzigen Lumpen einher, darbt am Geist und hungert am Magen; schaut nur zu oft böses Beispiel, arbeitet zu oft über eure noch jugendlichen Kräfte, so steht es um eure Kindheit. Dann kommt Arbeiten und immer Arbeiten bis auf Schweiß und Blut, Arbeiten voll Gefahren, voll Ekel, und ohne genügenden Lohn, Arbeitslosigkeit und Schulden; Krankheiten; Militärdienste; Handwerksbuch; keine Aussicht, stete Unruhe über den morgenden Tag. So lebt ihr in eurer Jugend. An Ehe und Familie haben viele nicht zu denken; und die, welche sich verheiraten, bereuen es oft, so fürchterlich lasten auf ihnen die Sorgen. ~ Und euer Alter, nach langem Arbeiten und vielfältigen Vaterlandsdiensten, hat wieder, zur Vergütung, nichts als Jammer, Elend, Qualen, Hospital und Selbstmord zu erwarten. Dicht neben euch seht ihr eure Meister und Gebieter prassen und Gold rollen; sie haben sozusagen bloß die kleine Mühe auf die Welt zu kommen, dann finden sie reichlichst alles was sie brauchen, um nicht zu arbeiten, nicht zu produzieren, aber trotzdem zu genießen. Ihr habt keine Genüsse, obgleich ihr alles hervorbringt. Allein, Freunde seid gerecht: diese beneideten Klassen sind auch mit ihren Sorgen, ihrem besonderen Kummer geeinigt; sie auch sind Schlachtopfer der alles verschuldenden Gesellschaftsorganisation. Immerhin; aber ihr, ihr seid elend, und es muß uns Arbeitenden endlich irgendwoher Heilung kommen, deucht mir.

Blickt nach Ikarien in Amerika, dort wird das Proletariat nicht mehr vorhanden sein, ebenso wenig schwelgende Reiche. Dort sind alle Bürger die Besitzer des allgemeinen, gesellschaftlichen, nationalen und nicht zu teilenden Eigentums. Also ist Armut drüben nicht möglich. Ebenso wenig Arbeitsleute und Arbeitsmeister; stattdessen Assoziierte, brüderlich auf gleichem Fuß sich behandelnd, alle arbeitend, je nach Fähigkeiten. Alle Geschäfte gelten dort als öffentliche Ämter, und alle Ämter gelten als Geschäfte. Folglich gibt es keine Ausbeuter, keine Auspresser, keine Aussauger dort. Keine Tagelöhner werdet ihr dort haben, aber eine gerechte Verteilung der Produkte, wie zwischen Assoziierten. Keine Arbeitslosigkeit, keine Konkurrenz, sondern Arbeitsorganisation, feste vernünftige Arbeitsregeln, nach Erfahrung, Klugheit, öffentlicher Meinung und Ansicht der Mehrheit der Arbeiter selber. Die ganze Ackerbau- und Industriearbeit wird nach großen Werkstätten ausgeübt; niemand bleibt müßig, niemand ist übermäßig beschäftigt. Die Werkstätten sind zweckdienlich, gesund, schön; die Maschinen nehmen viele, ja die meiste Mühe dem Arbeiter ab. Jeder, soviel als möglich, erwählt selbst sich nach Geschmack und Lust eine Profession. Alle Amtsführer sind wählbar und absetzbar; alle Einwohner sind wählbar und wählend...




Keine Arbeits- oder Handwerksbücher mehr; kein knechtischer Soldatendienst; keine Steuer ; jeder gut behaust, bekleidet, genährt, unterrichtet, in Gesundheit erhalten durch die unablässige Sorgfalt der Regierung, d. h. der gesamten Nation; jeder in die Möglichkeit versetzt, ein Weib zu nehmen und ungestört Familienfreude zu genießen.

Keine Aristokratie, keine Vorrechtler, keine Ungleichheiten.

Reine, ganz reine Demokratie, Gleichheit nach Vernunft und Billigkeit, d. h. in Verhältnis und Proportion, stets nach den leiblich-geistigen Kräften für die Arbeit, und nach den Bedürfnissen für die Verteilung. So erst sind alle gleichmäßig beglückt. Kurz, die Arbeiter sind drüben das Volk, die Nation. Nur sie, und niemand anders, herrschen dort; denn es gibt drüben nichts als Arbeitende; sie erziehen sich in ihrem eigenen wohlverstandenen Interesse, und erst auf diesem Pfade wird die Menschheit in Ordnung kommen. Arbeiter! zaudert nicht; heute seid ihr noch geknebelt, getreten, gefesselt; Achtung hat niemand vor euch, und ihr habt weder Brot noch Arbeit nach Bedarf. Laßt uns dorthin gehen, wo dieses Elend nicht mehr sein wird, nach Ikarien!


Aus heutiger Sicht wirkt es natürlich seltsam, wenn Amerika zum Heimatland des Kommunismus (Ikarien) erklärt wird.
Aber gerade das Amerika des 19 Jahrhunderts ist sehr reich an frühsozialistischen Gründungen intentionaler Gemeinschaften.

zur Geschichte der Ikarischen Bewegung siehe auch
  • http://nihs.info/history.html
  • http://www.marxists.org/subject/utopian/cabet/index.htm

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