Dienstag, 12. Februar 2008

Über den Konsens

Einige Denkanstöße
von Roland Raven, damals geschrieben zur Diskussion in der ZEGG-inspirierten Gruppe Maitea, erschienen in NHZ Nr. 1 (Jahr 2000)

Es gibt eine gewisse Übereinstimmung, sozusagen einen Konsens, in der Gruppe Maitea, aber letztlich auch in vielen Gemeinschaften, daß das sogenannte Konsensprinzip bei Entscheidungsfindungen angestrebt wird. Ich möchte dazu einige Überlegungen anstellen.

Zur Etymologie: Was bedeutet Konsens?

Das Wort Konsens entstammt dem lateinischen "Consensio" bzw "consentio" bzw "Consensus" und bedeutet laut Wörterbuch:
- Übereinstimmung, Einigkeit,.einstimmiger Beschluß
- Geheimes Einverständnis, Verabredung, Komplott
Es besteht aus dem Suffix "con-" bzw "com" bzw. "cum", was wiederum (laut Wörterbuch) bedeutet:
zusammen, gemeinsam, zugleich, völlig
Dann ist da noch das Stammwort "sentio" bzw. "senus". "sensus" bedeutet nach Wörterbuch:
Sinnes- Empfindungsvermögen, Wahrnehmung, Besinnung
- Ansicht, Meinung, Gedanke
- Gefühl, teilnehmende Empfindung, Gesinnung. Stimmung
Damit wäre ein Konsens so etwas wie ein übereinstimmendes (einstimmiges) Gefühl bzw. übereinstimmende Auffassung. Interessant, was eine etymologische Betrachtung so alles ergibt!

Der Begriff Konsensprinzip im landläufigen Verständnis

Als ich 1987 mich am Gewerbehofprojekt beteiligte, wurde dort gerade das Konsensprinzip im Plenum eingeführt. Es wurde formell so gehandhabt, daß Anträge im Plenum gestellt werden konnten und dann kam es darauf an, ob eine der beteiligten Parteien Veto einlegte. Da es gegen jeden möglichen Beschluß möglicherweise Einwände geben kann und auch gab, wurde von dem Vetoprinzip natürlich auch Gebrauch gemacht. Die Szenerie gestaltete sich dann so, daß die einzelnen Gruppen Vetodrohungen gegeneinander aufbauten. Im Ergebnis kamen manche, selbst dringend notwendige Entscheidungen nur sehr schleppend voran, die Entscheidungsfindung entwickelte sich milimeterweise.

Mehrheitsprinzip (Demokratie) versus Konsensprinzip

Formell lassen sich Mehrheitprinzip und Konsensprinzip einander gegenüberstellen. Beide haben Vor- und Nachteile. Der Vorteil des Mehrheitsprinzips ist die größere Entscheidungsfreudigkeit und –fähigkeit des betreffenden Organismus. Der Nachteil besteht darin, daß es Sieger und Verlierer gibt. Die Mehrheit ist nämlich die Gewinnerseite, die ihre Interessen und Ansichten durchsetzen kann, die Minderheit ist die Verliererseite, deren Interessen und Ansichten untergebuttert werden.
Über das Konsensprinzip wird gesagt, daß es den Nachteil des Mehrheitsprinzips, nämlich daß es Verlierer und Gewinner gibt, vermeiden kann, weil alle Interessen berücksichtigt werden. Der Nachteil besteht in einer schleppenderen Entscheidungsfindung.
Doch damit möchte ich mich nicht begnügen. Ich behaupte nämlich, daß es zwei vollkommen gegensätzliche Varianten des Konsensprinzips gibt.

Welche Entscheidungen sind besser?

Es ist eine müßige Frage, ob das Konsensprinzip oder das Mehrheitsprinzip bessere Entscheidungen hervorbringt, denn das hängt nicht von dem formalen Verfahren ab. Die Qualität einer Entscheidung hängt davon ab, wie gründlich die Entscheidung vorbereitet wurde (sogenannte Entscheidungsvorbereitung) und inwieweit die Entscheidung getragen wird. Es ist richtig, daß im Mehrheitsprinzip die Neigung der Minderheit gering sein wird, eine Mehrheitsentscheidung mitzutragen (das ist eine Frage der Disziplin). Es ist aber auch richtig, daß eine durch Veto blockierte Entscheidung eine Entscheidung darstellt und eine durch Veto blockierte Mehrheit sich durchaus als Verlierer sehen kann. Letztlich hängt die Qualität einer Entscheidung –wen wunderts? – nicht vom formellen Abstimmungsverfahren ab, sondern von der Gründlichkeit der Entscheidungsvorbereitung und der Qualität und Differenziertheit der Entscheidungsfindung.

Zwei entgegengesetzte Varianten des Konsensprinzips

Es gibt meines Erachtens zwei entgegengesetzte Varianten des Konsensprinzips, die sich allerdings nur schwer formal beschreiben lassen, weil es inhaltliche Varianten sind:
- Das Vetoprinzip
- Das synergetische Prinzip
Das Vetoprinzip zeichnet sich dadurch aus, daß der Entscheidungsraum der Gruppe von jedem einzelnen eingeschränkt werden kann. Es ist nicht wahr, daß es im Vetoprinzip keine Gewinner und Verlierer gibt. Im Gegenteil kann derjenige, der andere Impulse und Einflüsse blockieren will, mit wesentlich bescheideneren Mitteln auskommen als im Mehrheitsprinzip. Es ist leicht, unter Bedingungen des Vetoprinzips zu blockieren, und es gibt genug Menschen, die sich dann als Sieger sehen, wenn sie andere blockieren. Auch eine Nicht – Entscheidung ist eine Entscheidung. Ein durch ein Veto blockierter Vorschlag ist gleichbedeutend mit der Entscheidung, beim Alten zu bleiben. Eine Minderheit kann also die Entscheidung gegen die Mehrheit treffen, beim Alten zu bleiben. Machtkämpfe werden unter diesen Umständen dadurch ausgetragen, daß die streitenden Parteien versuchen, Ihren Standpunkt als den alten Standpunkt auszugeben, der durch eine neue, und nicht durch Veto blockierte Entscheidung aufgehoben werden müßte.
Tatsächlich gehen die angeblichen Vorteile des Konsensprinzips gegenüber dem Mehrheitsprinzip dann gegen Null, wenn im Konsensprinzip hauptsächlich ein formaler Mechanismus gesehen wird, in dem eine Minderheit jederzeit eine Mehrheitsentscheidung blockieren kann. Dann siegt eben nicht die Mehrheit über die Minderheit, sondern die Minderheit über die Mehrheit, kraß gesagt.

Das synergetische Prinzip ist dagegen kein formales Prinzip, sondern es setzt inhaltliche Prozesse voraus. Es basiert auf der Annahme, daß es grundsätzlich meistens möglich ist, einen wirklichen Konsensus, eine wirkliche Übereinstimmung zu finden. Diese wirkliche Übereinstimmung wird aber sicherlich nicht auf dem Weg des Veto gefunden. Im Gegenteil markiert ein Veto bereits definitiv das Scheitern des Konsensprinzips, der Konsens ist nämlich nicht erreicht worden. Sobald jemand sagt: "Da bin ich dagegen" besteht eigentlich schon buchstäblich kein Konsens und es kann deshalb nicht von Konsensprinzip gesprochen werden.
Konsensprinzip ist dann gegeben, wenn ein Beschluß gefällt wird, der bruchlos von allen Beteiligten mitgetragen werden kann. Ein Kompromiß also? Die folgende Betrachtung soll zeigen, daß Kompromiß und Synthese zwei verschiedene Paar Stiefel sind.

Kompromiß und Synthese

Was sind die Bedingungen einer wirklichen Übereinstimmung?
Eigentlich ist diese Frage sehr leicht zu beantworten. Eine wirkliche Übereinstimmung ist dann gegeben, wenn alle Beteiligten ihre Interessen und Beweggründe in dem getroffenen Beschluß in vollem Umfange wiederfinden. Dies setzt natürlich Voraus, daß diese Interessen und Beweggründe positiver Natur sind, und nicht in Ausgrenzung oder Xenophobie bestehen. Um nicht mißverstanden zu werden: das ist dann kein Kompromiß. Ein Kompromiß ist in aller Regel nur eine notdürftige Konfliktlösung. Der Kompromiß basiert darauf, daß alle Beteiligten so weit von ihren Positionen zurückgehen und sogenannte Abstriche vornehmen, bis alle "mit Bauchschmerzen" bei dem Beschluß übereinstimmen können.
Eine Synthese ist dagegen etwas ganz anderes. Sie basiert darauf, daß alle Beteiligten ihre eigentlichen Intentionen verwirklichen können. Synergetischer Konsens ist also kein formaler Mechanismus, sondern ein Inhaltlicher. Er setzt einen gemeinsamen, also kollektiven Prozeß des Begreifens und der bewußten und aktiven Gestaltung voraus.
In diesem Prozeß gibt es folgende Stufen:
- Zuhören, Erfassen, worum es dem anderen wirklich geht
- Das andere Wertesystem begreifen, ohne es vorzuverurteilen
- Gemeinsame Werte ermitteln und herausarbeiten
- Prüfen, inwieweit die beiden kommunizierenden Systeme voneinander lernen können
- Verschmelzung der jeweiligen Ziele – Komplexe zu einem gemeinsamen Zielrahmen, in dem die Ziele aller Beteiligten voll integriert sind.

Winnie Gryphon und andere haben den geschilderten Weg zu einem Kommunikationssystem ausgestaltet, das sie Transprogramming nennen. Wissenswertes darüber gibt es unter der Webadresse http//www.tp.syncos.de zu finden. (Hinweis: dieser Link ist nicht mehr aktiv)

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